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Digitalisierung, Dummheit und Demokratie (2)


„Der Mensch ist ein analoges Wesen“ – Interview mit
Moritz Leuenberger über Digitalisierung, Dummheit und
Demokratie

Von Reinhard Riedl

Das Interview mit Altbundesrat Moritz Leuenberger geht in Teil 2 um den Vorteil von natürlicher Dummheit gegenüber künstlicher Intelligenz, die Notwendigkeit der Regulierung von Infrastruktur und die „Verwesentlichung“ von Demokratie dank digitaler Instrumente. In Teil 1 ging es um die Folgen der digitalen Transformation für die politische Konsensfindung und die gesellschaftliche Solidarität, sowie um die Frage, ob es schnellere Gesetzgebungsprozesse braucht.

digitalisierung

 

Nachhaltige politische Entscheide zu Digitalisierungsfragen setzen voraus, dass die Entscheiderinnen über genügend Digitalisierungswissen verfügen.

Moritz Leuenberger: Genau hier möchte TA Swiss dazu beitragen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in die Welt der politischen Verantwortung übertragen werden können. Das ist aber nicht immer einfach. Beispiel: Als ich Bundesrat war, war ich auch für die Gen-Veränderung von Pflanzen verantwortlich. Selbst sah ich darin eine grosse Chance. Einige Leitplanken waren allerdings nötig, um Nachteile zu bannen. Aber ich musste mich von einem Moratorium zum anderen angeln, denn einige NGOs schürten eine derart grundsätzliche Angst vor jeder gentechnischen Veränderung, dass eine Mehrheit in einer Abstimmung nicht zu erreichen gewesen wäre. Diese Angst ist heute noch tonangebend. Und das Moratorium wird immer noch verlängert. Das bedauere ich sehr. Man sollte auch über die Vorteile einer Technologie aufgeklärt sprechen können.

Sehen Sie Potential darin, dass neue Technologien den Wissenstransfer verbessern?

Da bin ich mir nicht so sicher. Technologien schaffen das nicht. Der blosse Zugang zum Internet bedeutet noch kein inhaltliches Begreifen dessen, was man dort lesen kann – wenn man es denn überhaupt liest. Wichtig ist, dass unsere TA-Swiss-Studien so geschrieben werden, dass sie jeder verstehen kann. Die Wissenschaft erbringt wichtige und fundierte Erkenntnisse, doch die Frage ist: Wie werden diese Erkenntnisse von den politischen Verantwortlichen aufgenommen und verstanden? Wie kann TA-Swiss noch besser kommunizieren?

Man könnte spekulieren, dass künstliche intelligente Übersetzungsagenten, Wissen in Zukunft aufbereiten können…

Das kann ich mir jetzt gar nicht vorstellen. Im Gegenteil, da braucht es nicht künstliche Intelligenz, sondern natürliche Dummheit. Ich sage das als einer, der auch etwas schwer von Begriff ist. Um etwas zu begreifen, brauche ich nicht ein noch effizienteres System, das mir etwas eintrichtert, sondern ich selber muss fragen und fragen. Ich hatte Mühe in der Schule und musste oft nachfragen, bis ich die Dinge begriffen hatte. Deswegen konnte ich später sehr gut Nachhilfestunden geben, weil ich alle verstand, die dieselben Schwierigkeiten hatten. Der Mut zur eigenen Begriffsstutzigkeit, die Entdeckung der Langsamkeit kann eben viel mehr leisten als KI.

In der Hochschullehre scheitern wir oft daran, Studierenden ein fachdisziplinäres Mindset zu vermitteln.

Studierende bräuchten eben den Mut zu gestehen, dass sie etwas nicht verstanden haben. Doch dieser Mut fehlt, weil man sich so anfühlt, als würde man sich als dumm outen. Am schlimmsten ist es, wenn Lehrer die Fragenden auch noch schallend auslacht. Später in meiner Karriere erlebte ich oft ähnliche Situationen. Wenn mir Fachleute in den Ämtern etwas erklärten, verstand ich oft nicht, was sie meinten. Oft musste ich nachfragen. Daraufhin haben sie das Gleiche mit den gleichen Worten einfach wiederholt, aber lauter gesprochen. Das ist nicht die Lösung. Man muss auf die beschränkte Denkweise des Fragenden eingehen.

In der Managementlehre gibt es das Prinzip des wiederholten Warum-Fragens, um Dinge wirklich zu verstehen.

Das ist meine Grundüberzeugung.

Die sozialen Medien ermöglichen es den Mächtigen, über direkte Kommunikationskanäle mit dem Volk zu kommunizieren. Viele Regierungschefs treten seither zunehmend als Volkstribunen auf, wie im alten Rom.

Der Vergleich zeigt, dass es nicht nur eine technologische Frage, sondern auch eine inhaltliche Frage darstellt, die auch im grösseren Rahmen gesehen werden muss. Der eigentliche Vorwurf geht nicht an die Digitalisierung als die Infrastruktur, sondern an diejenigen, die sie dazu nutzen, ihre persönlichen Interessen zu befriedigen. Nun wäre es aber auch zu naiv, eine Infrastruktur nur neutral zu betrachten, sie ist ja auch eine Mitursache. Und das ist die Aufgabe des Gesetzes, diese Mitursache zu regulieren. Ein Vergleich: Eine Autobahn ist die Infrastruktur und wenn jemand mit 200 km/h einen Unfall verursacht, ist es allein seine Schuld. Aber die Infrastruktur Autobahn und das Automobil haben ihm ermöglicht, so schnell zu fahren. Man müsste also im Auto eine Geschwindigkeitssperre einbauen und an der Autobahn sind Leitplanken anzubringen, damit der Raser nicht auch noch auf die Gegenfahrbahn gerät. So ist es auch bei Facebook. Die sozialen Medien bilden eine Mitursache für die Verbreitung von Fake News und ihre Betreiber tragen eine Mitschuld, wenn sie keine Leiplanken einbauen. Diese braucht es, auch wenn die Haupttäter die Volkstribune sind.

Irritierend ist, dass in den sozialen Medien zunehmend Informationen geteilt werden, bei denen niemand mehr sagen kann, was sie wirklich bedeuten.

So wie neue Religionsgemeinschaften oft grossen Zulauf haben, könnte auch dieses Phänomen eine Art Flucht aus einer rationalen Gesellschaft bedeuten. Da bräuchte es eher Psychoanalytiker, die sich mit dem Thema genauer beschäftigen. Auch beim Thema Corona-Leugner frage ich mich, woher der Hang kommt, sich mit Fleiss jeder Logik entwinden zu wollen. Manche Überzeugungen grenzen an Paranoia. Dieser Hang, sich rational gesicherten Erkenntnissen, ja physikalischen Grundgesetzen zu verweigern, ist erstaunlich. Aber die psychologischen Hintergründe sind nicht mein Spezialgebiet.

Erleichtern die sozialen Medien die politische Teilhabe?

Ja. Ein Beispiel dafür ist die Operation Libero. Eigentlich war ihre Einmischung in eine laufende Abstimmung nichts anderes als eine klassische Beteiligung in der Demokratie, aber eben mit neuen Mitteln. Das bedeutete für mich auch eine Verwesentlichung der Demokratie, klassischer Inhalt mit neuem Mittel. In dieser Beziehung haben die politischen Parteien erstaunlich wenig getan im Vergleich mit anderen Ländern. Das wichtigste Meinungsbildungs-Medium bei uns ist immer noch das Abstimmungsbüchlein des Bundesrates. Man glaubt es kaum. Hier sind wir eher traditionell, aber das wird sich ändern.

Ist die digitale Transformation der Demokratie in Summe eine Chance oder ein Risiko?

Beides. Ich habe in erster Linie Hoffnung, denn Digitalisierung ermöglicht Aufklärung. Die Risiken haben wir bereits zuvor besprochen: Die Summe von Fakten kann auch überfordern. Da fliehen viele in blosse Meinungen. Das ist einfacher, selbst für politische Leader. Dann gewinnt binäres Denken Oberhand: «Bist du nicht für mich, bist du gegen mich.» Diese Polarisierung macht mir Angst.

Wie wird sie die Demokratie langfristig verändern?

Solche Fragen muss ich immer durch die Brille meiner eigenen Hoffnung und Überzeugung beantworten. Das heisst, ich kann sagen, was ich mir erhoffe, aber weniger, was tatsächlich geschehen wird. Ich bin ja kein Unbeteiligter, der die Entwicklung von oben herab durch ein Mikroskop betrachtet. Ich bin beteiligt und glaube an die Demokratie, deswegen glaube ich auch an die Chancen neuer Technologien. Sie erlauben es, unabhängig zu denken, sich und sich solidarisch zu verhalten. Deswegen muss die gesamte politische Arbeit dahin gehen, diesen Trend zu stärken.

Vielen Dank für das Interview.