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Jubiläumsrede zu 175 Jahre Bundesverfassung


175 Jubiläum Bundesverfassung 

12.9.2023

im Karl dem Grossen

Moritz Leuenberger

 

Im Namen Gottes des Allmächtigen! 

So beginnt die Bundesverfassung 

(mit einem Ausrufezeichen, dem einzigen in der ganzen Verfassung).

 

Da schütteln viele den Kopf und rufen aus: „Um Gottes Willen!“  (auch mit Ausrufezeichen) 

 Auch im Parlament war die Präambel umstritten. 

Vor allem aus der Romandie, wo die Trennung von Kirche und Staat im Sinne der Aufklärung viel konsequenter durchgeführt ist als in der deutschsprachigen Schweiz.

„nom de dieu!» Das sei ja die einzige Verfassung der Welt, die mit einem Fluch beginne.

 

Ich habe es an der Ausstellung im Landesmuseum in der durchsichtigen Urne gesehen: 

Das Verdikt der Besucherinnen und Besucher gegen diesen Ingress ist klar: Abschaffen. 

Ich überspringe also vorläufig den lieben Gott. 

 

Die Dreifaltigkeit des Zusammenlebens in einem Staat: 

Menschlichkeit, Moral und Recht

 

Die Bundesverfassung ist der oberste Kodex unseres Rechtsstaats. 

Auf sie beruft sich, wer zu seinem Recht kommen will. 

Aber die Bundesverfassung ist nicht einfach ein Arsenal für Beschwerden und Rekurse,

nicht eine Ansammlung von Artikeln für Gerichtsverfahren. 

 

Die Bundesverfassung ist mehr.

 

Sie gibt die Grundsätze vor, 

-       wie wir als Gesellschaft zusammenleben sollen. 

-       Sie nennt die so genannten «Werte», auf die wir uns berufen, seit dem Krieg gegen die Ukraine vermehrt.

Da lesen wir 

-       von «der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen», 

-       «Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.»

Das wurde konkret bei 

  • Corona; Wir waren gefordert, selber Verantwortung für uns und andere wahrzunehmen und nicht einfach nur auf Anordnungen aus Bern warten. 

Das bleibt konkret in der

  • Umweltpolitik: Ohne nachhaltiges Verhalten jeder und jedes Einzelnen können wir die Klima-Ziele nie erreichen, zu denen wir uns verpflichtet haben.

Wir lesen:

-       «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» 

Das ist nicht einfach eine linke Sozialklausel. Das ist die Erkenntnis: 

Eine Gesellschaft zerfällt, wenn sie nicht alle mitzieht und mitberechtigt. 

Die Unruhen in den Agglomerationen der französischen Grossstädte führen es uns vor Augen.  

Wir lesen in der BV:

-       «Frei bleibt nur, wer seine demokratische Freiheit gebraucht.» 

Erst dies gewährt den Fortbestand unserer Demokratie. Diese muss gelebt werden, sonst zerfällt sie, wie es in anderen Staaten unter populistischen, religiösen und autoritären Führern geschieht.

Machiavelli geht im „Fürst“ davon aus, 

-       das Zusammenleben der Menschen müsse mit der Angst vor Sanktionen organisiert werden. 

Viele Staaten, weltweit wahrscheinlich die Mehrheit, sind nach dieser Idee organisiert. 

 

Die Bundesverfassung atmet einen anderen Geist, den der Aufklärung:

 

-       Uneingeschränkte polizeiliche Mitteln oder gar ein totaler Polizeistaat könnte ein echtes Vertrauen zwischen den Menschen nicht erzwingen. Im Gegenteil, so wird es zerstört.

-       Ein Staat, der sich nur auf Gesetze und Verordnungen und Bussen stützt, kann nicht gleichzeitig die Freiheit garantieren.  

Das wäre ein Widerspruch

Eine Gesellschaft, die auf gegenseitiges Vertrauen baut, braucht drei Stufen. Auf ihnen beruht auch unsere Bundesverfassung: 

-       Das ist (erstens) die Mitmenschlichkeit,

 also die spontane gegenseitige Hilfe und Achtsamkeit.

ganz ohne vorgeschriebene Normen, 

nur die tief verankerte Nächstenliebe. 

Kultur und Religion bilden die Quellen für dieses Grundwasser. 

 

Der Staat ist darauf angewiesen und deshalb gewährt er Kultur und den Religionen die Freiheit, 

und zwar auch dann, wenn sie diese Freiheit nutzen, ihn, den Staat, zu kritisieren.  

 

Der Fluss, der aus diesem Grundwasser fliesst, ist der demokratische Diskurs darüber, 

 

-       wie wir uns gegenüber unseren Gegnern benehmen sollen,

-       darüber, was gut und was verwerflich ist,

-       zum Beispiel, welche Worte aus der Kolonialzeit wir nicht mehr gebrauchen sollen. 

 

Die Ergebnisse dieser Diskussionen über Gut und Böse münden

 

-       (zweitens) in die moralischen Normen, nämlich 

 

in die Regeln über Anstand, über Treu und Glauben. 

 

Es sind gesellschaftliche Regeln ohne staatliche Sanktionen und sie 

befinden sich in ständigem Fluss.

Weil auch die elementarsten Grundregeln nicht von allen eingehalten werden, bedarf es des letzten notwendigen Mittels, der 

 

-       gesetzliche Regeln mit Sanktionen. 

 

Zu ihrer Durchsetzung wird im Notfall Zwang und Gewalt angewendet. 

 

Ein Staat ist auf diese drei Säulen des Zusammenlebens angewiesen, damit er ein menschlicher und ein zivilisierter Staat sein kann. 

Die dritte Säule aber, die Gesetze, muss er selber organisieren und er allein hat das Recht, sie durchzusetzen.

 

Der Rechtsstaat 

 

Ohne Rechtsstaat gibt es keine Demokratie.

-       Er regelt das Recht zwischen den Menschen und 

-       er legt das Recht fest, das für Staat und Behörden selbst gilt.

 

Es ist nicht leicht, seine eigenen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit dem Gesetz unterzuordnen. 

-       «Ich will mein Recht!» 

fordern viele vor den Anwälten und Gerichten. Sie verstehen darunter ihre eigene Auffassung von Gerechtigkkeit. 

-       «Wir sind die Freunde der Verfassung!» 

 

«Alle, die sie anders verstehen, sind die Feinde der Verfassung und sie sind unsere Feinde.»

 

Wer so denkt und handelt, entfernt sich von der Idee der Demokratie. 

 

Doch Hand aufs Herz: Jede und jeder von uns trägt diese Grundhaltung des eigenen Verständnisses von Gerechtigkeit als Keim im eigenen Empfinden. 

Wir wissen es von uns, beobachten es an unseren Kindern und Enkeln: 

Zuerst kommt das Ich. 

Das Du und die Anderen werden erst später begriffen. 

Es gibt in jeder noch so aufgeklärten Gesellschaft Menschen, die in diesem Kindesalter verharren, manchmal auch Parteien.

 

Auch die Behörden und Regierungen sind in der ständigen Versuchung, ihre eigenen Vorstellungen von Moral und ihre eigenen Interessen über das Recht zu stellen und autoritär zu werden – oft ohne, dass sie es selber realisieren. 

Die Bundesverfassung will diesem Missbrauch beikommen, der allen innewohnt, die Macht haben. 

 

Macht muss in Schach gehalten werden, damit sie nicht zum Missbrauch verkommt.

 

Die BV richtet sich deshalb ausdrücklich an unsere Regierungen und Verwaltungsbehörden:

 

-       Art. 5 Abs. 1: «Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.» 

Das heisst:

  • Die eigene moralische oder politische Überzeugung darf nicht vor das Recht gesetzt werden. 

Was ein Regierungsmitglied also vom Inhalt einer Demonstration hält, darf weder die Genehmigung einer Demonstration noch deren Bewilligungspflicht beeinflussen. 

 

-       Art 5 Abs. 3:«Staatliche Organe (und Private) handeln nach Treu und Glauben.»

Dieser Grundsatz wird verletzt,

  • wenn die Behörden ihre Information bewusst und ausgeklügelt so terminieren, dass sich die Betroffenen nicht mehr wehren können, obwohl sie das Recht dazu haben. 

(Das kommt nicht nur in Zürich vor, sondern in vielen Gemeinden in der ganzen Schweiz.) 

Der Grundsatz wird verletzt,

  • wenn ein Gesuch einfach so lange verschlampt wird, bis dieses nicht mehr verwirklicht werden kann.

Die Bundesverfassung kennt weitere Begrenzen der Macht:

 Die jährliche Rotation der Präsidien in Parlament und Regierung will Macht brechen.

 Die Gewaltenteilung, wo sich nicht etwa nur zwei Gewalten gegenseitig kontrollieren, sondern drei, wie das Montesqieu und andere Philosophen der Aufklärung entwarfen.  

Wie überlebensnotwendig dieses Dreieck der Gewalten für eine Gesellschaft ist, zeigt der Zustand in Israel, wo sich eine knappe Mehrheit im Parlament die Judikative unterordnen will. 

(in Wahrheit ist es sogar nur eine Minderheit)

Wenn sich nur zwei politische Blöcke gegenseitig ohne Judikative gegenüberstehen, kann eine Gesellschaft auseinanderbrechen. 

 

Darum sieht der Rechtsstaat einen Rechtsweg vor, vom Bundesgericht bis zum Statthalter (der muss manchmal auch sagen, was Recht ist). 

 

Ein Verfassungsgericht kennen wir auf eidgenössischer Ebene aber nicht. 

Die Verfassung gibt der Bundesversammlung das Vertrauen, gewissenhaft auf Verfassungstreue zu achten. 

Das gelang und gelingt allerdings nicht immer.

Der EuGH für Menschenrechte musste bereits 131mal Gesetze oder Praktiken der Schweiz als menschenrechtswidrig erklären. 

-       Rentnerrenten, 

-       militärischer Arrest, 

-       Verjährungsregel bei Asbesterkrankungen und 

-       viele andere. 

 

Mit anderen Worten: In diesen Fällen hat die Bundesversammlung gegen die Bundesverfassung verstossen. 

 

Der nächste Sonntag ist der Eidgenössische Buss- und Bettag. 

Der Tag ist vielen ebenso unverständlich wie Gott in der Präambel.

Es tönt für viele wie Eidg. Bussenzettel.

 

Doch diesem Tag liegt ebendiese Demut zugrunde, welche sich eingesteht:

 

Kein Staat ist unfehlbar, auch eine Demokratie nicht. 

 

Unsere Demokratie hat Fehler begangen, sie begeht Fehler und sie wird auch künftig Fehler begehen. 

Das zeigt sich immer dann, wenn sich die Landesregierung für ein Verhalten früherer Generationen entschuldigen muss, wie etwa 

-       Für die offizielle Flüchtlingspolitik während des zweiten Weltkrieges, als jüdische Flüchtlinge abgewiesen und in den Tod getrieben wurden (50 Jahre nach Kriegsende hat sich der Bundesrat dafür entschuldigt)

-       Für das Zurückbehalten jüdischer Vermögen auf Schweizer Banken 

-       Für die Internierung von Kindern der Landstrasse. 

 

Künftig sind das vielleicht 

-       die Kinder der Saisonniers, für die wir uns entschuldigen müssen oder

-       die Verweigerung, Flüchtlingen Hilfe zu leisten. 

-       Oder mitverantwortlich für Kinder- und Sklavenarbeit in anderen Kontinenten zu sein, von welcher hiesige Konzerne profitieren. Und wir ebenfalls, indem wir ihre Steuern einziehen. 

 

Die Bundesverfassung verändert sich und wird sich weiter ändern

 

Sie ist keine Bundeslade, nicht von einem Gott diktiert und nicht in Stein gemeisselt. 

Sie kam als Folge eines Krieges zwischen Konfessionen mit ihren jeweiligen politischen Machtvorstellungen zustande, als Kompromiss und auch der war damals keineswegs einstimmig akzeptiert; es brauchte sogar einige Tricks dazu (Enthaltungen zählten in einigen Kantonen (LU) als Ja Stimmen). 

Einer der Hauptgründe für die Akzeptanz der neuen Bundesverfassung damals war die vorgesehene Veränderbarkeit, das Kapitel über die Revision.

 

Veränderungen wurden vorgenommen. Zum Glück: 

-       Bezüger von Sozialhilfe hatten 1847 noch kein passives Wahlrecht.

-       Die Niederlassungsfreiheit für Juden, 

-       das Frauenstimmrecht, 

-       der Proporz: 

-       direkt demokratische Elemente wie Referendum und Initiative: 

das alles war lange nicht in der Verfassung. In diesem Sinne ist die BV 175 Jahre jünger geworden und nicht älter. Und wir hoffen, sie werde noch viel jünger!

 

Unsere Anschauungen und Werte ändern sich und das spiegelt sich in der Verfassung. 

 

Wir werden die BV weiterhin verändern, denn es ändern sich auch unsere gesellschaftlichen Überzeugungen und politischen Haltungen. 

 

Weder die 68er Bewegung, während der ich zu politisieren begann, noch die heutigen Genderdebatten sind genuin eidgenössisch. Wir schwimmen alle im Strom der Zeiten. Mit der Globalisierung ist dieser Einfluss von aussen immens geworden. 

 

Die Oligopole aus dem Silicon Valley prägen unser Verhalten zu den Mitmenschen mehr als ein Gesetz oder die Verfassung. 

Die sozialen Medien ersetzen vielfach Erziehung und Religion. 

 

Wir wurden schon immer von aussen mitbestimmt.

 

Schon die Verfassung von 1848 wurde auch von den Grossmächten geprägt, insbesondere die Neutralität. 

 

Die Staatengemeinschaft, mit der wir verbunden sind, prägt unsere Gesetze, betreffe das nun den Finanzplatz, das Konsumentenrecht, die Ausschreibungspflicht bei grossen Projekten. 

Immer sind wir abhängig von anderen Staaten. 

Letzte Woche gab die EU ihre Pläne bekannt, wie sie die Herrschaft von Apple, Google und Co beikommen will. Die Schweizer Behörden haben schon gar nicht versucht, selber etwas zu unternehmen und hofften auf die EU. Autonomer Nachvollzug nennt sich diese Haltung. 

 So viel zu unserer Souveränität (welche im Mittelpunkt Ihrer Veranstaltungsreihe steht).

 Wir wollen in die Völkergemeinschaft eingebunden sein, in der UNO mit dem EuGH für Menschenrechte.

Unser Aussenminister Cassis wird heute im TA zitiert mit: 

«Das Völkerrecht schützt uns. Die Armee ist sowieso zu schwach.» 

 

Das bezeugt auch der allerletzte Artikel der BV (vor den Übergangsbestimmungen): 

Er lautet: «Für das Bundesgericht und alle rechtsanwendenden Behörden sind massgebend: die Bundesgesetze und das Völkerrecht.»

 

Die BV beginnt also mit dem lieben Gott und sie endet mit dem Völkerrecht. 

Es geht uns gut. Wir sind nicht allein.