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Was prägt in der Politik wen? Das Amt die Person oder die Person das Amt?

Rede am Symposium zum 70. Geburtstag von Daniel Hell zum Thema

Jemand sein dürfen, statt etwas sein müssen

Zürich, 29. August 2014

„Wir treten auf, wir spielen, wir treten ab.“

Politik und Theater sind zwei nahe Verwandte. Wie das Theater die Rollen des Teufels, der Hexe und des Kasperli kennt, gibt es in der Politik die Rollen des aufmüpfigen Jungtürken, des scharfzüngigen Oppositionellen im Parlament, des milden Staatspräsidenten und des alt Bundesrates, der den Ruhestand zu geniessen hat.

Ob im Kasperlitheater oder in der Politik: Eine Rolle wird nicht nur geprägt von demjenigen, der sie innehat, sondern vor allem von den Erwartungen des Publikums. Es gibt Erwartungen an die Frauenrolle und an die Männerrolle, an die Medienschaffenden, an die Vertreter der Wirtschaft und an die Politikerinnen und Politiker. Diese Erwartungen können den Amtsinhaber in den Konflikt bringen, entweder „etwas sein zu müssen“, das er gar nicht will, oder die Funktion eigenständig zu gestalten, also „jemand zu sein“, dafür jedoch den Erwartungen nicht zu entsprechen. Dem Rollenträger ist dieser Konflikt nicht immer bewusst. Je weniger er ihn realisiert, desto eher verändert er sich selber, ohne es zu merken. Auch sein Denken, sein Fühlen und sein privates Verhalten in der Familie und gegenüber Freunden verändern sich.

1. Der Politiker will eine Rolle spielen, er will „etwas sein“

Staatschef oder Regierungsmitglied ist in einer Demokratie niemand von Geburt oder Gottes Gnaden, sondern diese Rolle wird durch die Wähler umschrieben und durch die Wahl symbolisch besetzt.

Politiker werden in ein öffentliches Amt gewählt und so ist die Erwartung in ihre Arbeit verbindlich, rechtlich ausgedrückt „obligatorisch“, denn es besteht ein Auftragsverhältnis. Der Politiker übt in der Demokratie ein Mandat aus und man will ihn dabei behaften, dass er die Erwartung auch tatsächlich erfüllt. Vor allem die Wähler überwachen ihn und auch die Medien, die sich ihrerseits als Repräsentanten der Öffentlichkeit sehen. Selbst die politischen Gegner haben Erwartungen, damit sie ihr Feindbild pflegen und sich selber profilieren können.

Der Politiker will diese Erwartungen erfüllen, denn er sucht Einfluss und Macht. Dazu will er eine Rolle in der Demokratie übernehmen, in der Partei, im Parlament oder in der Regierung.

„Ich will, dass ich kann, was ich muss!“ sagt er sich.

Er sieht zunächst keinen Freiheitsverlust darin, der angestrebten Rolle zu entsprechen, keinen Widerspruch zwischen „jemand sein dürfen“ und „etwas sein müssen“.

Das ist nicht der widersprüchliche und beschönigende „autonome Nachvollzug“ eines Diktates von aussen, sondern das freiwillige Bemühen, eine Rolle im Einklang mit den Erwartungen zu spielen.

So wollte ich im Katastrophenjahr 2001, als ich nach der Schiesserei im Parlament von Zug, beim Brand im Gotthardtunnel und beim Flugzeugabsturz der Crossair öffentlich vor die Kameras trat, die Erwartungen an den Bundespräsidenten erfüllen, nämlich die Gedanken und Gefühle der Bevölkerung in Worte zu kleiden. 

Ein sozial kompetenter Politiker, der die Verantwortung sucht, kann besonders gut in eine neue Rolle schlüpfen und übernimmt sie besonders effizient. Oft werden Leaderfiguren des Parlamentes, welche die Regierung besonders heftig angreifen, dann, wenn sie selber in die Regierung gelangen, zu besonders gefürchteten Gegnern des Parlamentes. Ihr Amt wandelt sie. Mario Gmür beschreibt in „Meine Mutter weinte, als Stalin starb“, wie seine Mutter voraussagte, Jürg Kaufmann sei so wortgewandt, dass er, einmal in den Stadtrat gewählt, seine sozialistische Haltung verlieren und seinen Prinzipien untreu werde. Immer wieder können Basismitglieder einer Partei, die sich in der Opposition versteht, diese Entwicklung beobachten, wenn einer der ihren den Sprung in die Exekutive schafft. Regelmässig folgt dann die Forderung nach Austritt der Partei aus der Regierung. Dieses Gefühl der Enttäuschung hat wesentlich mit der Rollenerwartung zu tun. Der eigene Vertreter, in den man mehr Vertrauen hat, als in diejenigen einer anderen Partei, wird besonders scharf beobachtet und seine Kompromisse bedeuten dann schnell einmal Verrat, obwohl er sie ja eingeht, um den angestrebten Einfluss wenigstens teilweise zu erreichen.

Politiker wollen nicht nur Einfluss, sie wollen auch gefallen. Das äussert sich besonders im Populismus: Der Populist will seiner Anhängerschaft gefallen und redet ihr deshalb nach dem Munde. Er verspricht einfache Lösungen für komplexe Probleme. So entsteht ein doppelter narzisstischer Gewinn: Das schunkelnde Publikum beklatscht den Populisten, weil es in seinem Glauben bestätigt wird. Der Populist sieht seine Haltung bestätigt vom begeisterten Applaus.

2. Repräsentation

Der Politiker repräsentiert seine Wähler. Repräsentieren heisst wörtlich vergegenwärtigen: Jemanden in die Gegenwart setzen, der selber gar nicht in der Gegenwart ist.  Der Politiker verleiht seinen Wählern die Gegenwart in einer Funktion, die sie selber nicht innehaben. Sie wollen sich in ihm sehen, durch ihn repräsentiert sein. Deswegen möchten sie „Einen von uns“ im Parlament. Ein Parteiangehöriger wählt ein Mitglied seiner Partei. Angestellte wählen Angestellte. Die Lokomotivführer wählen einen Lokomotivführer. Frauen wählen Frauen. Im Amt sollen sie für ihre Anliegen kämpfen und sich so verhalten, wie sie es tun würden.

3. Projektion

Da sich die Wähler selber nur im besten Licht sehen, wird die Repräsentation zur Projektion. Sie wollen nicht nur ein Abbild, sondern lieber noch ein Vorbild. Der Repräsentant mutiert zum Ideal. In ihrem Idol sehen sich die Wähler dann gespiegelt. Wenn sie sich mit ihrem Leitbild brüsten, fallen einige Lorbeeren auch auf sie selber. Erfüllt er diesen Anspruch nicht, kann es kritisch werden. Darum ist es für jede politische Partei penibel, wenn ihre Repräsentanten zum schlechten Vorbild werden.

(In Zürich sitzt seit längerem ein Gemeinderat in Untersuchungshaft und so versucht seine Partei, die SVP, ihn aus dem Parlament, mindestens aber aus der Fraktion zu werfen. Über die Affäre Geri Müller sind die Grünen wohl enttäuschter als andere Parteien, die vielleicht sogar etwas schadenfroh sind.)

Allerdings wollen die Wähler auch nicht, dass sich das Vorbild all zu weit von ihnen entfernt. Wenn es menschliche Schwächen zeigt, zum Beispiel mit schrecklichem Akzent und mit vielen Fehlern spricht oder sich überhaupt nicht gut ausdrücken kann, dann wird seine Mittelmäßigkeit als repräsentativ geschätzt: „Er ist einer von uns.“ Wenn er zur Perfektion neigt, gefällt das nicht.

(Bundesrat Furgler hat das erfahren. Nationalrätin Grendelmeier, die Bühnendeutsch und ohne jedes Stottern sprach, wurde deswegen verspottet.)

4. Erwartungen an ein politisches Amt

Die Erwartungen der Wähler entstammen ihrer Vorstellung  einer politischen Funktion und diese wiederum fusst auf Tradition und politischer Überlieferung.

Die Erwartungen verändern sich zwar mit dem Lauf der Zeit und ein politisches Rollenbild wird immer wieder neu interpretiert. Doch unsere Verfassung, unsere politische Kultur und Tradition verfestigen ein Rollenbild.

4.1.       Rollen werden kodifiziert und ritualisiert

Die politischen Ämter sind in der Verfassung umschrieben. Auf sie muss ein Eid oder ein Schwur abgelegt werden. Zusätzlich werden sie durch Rituale symbolisiert und verfestigt.

Es gibt zwischenstaatliche Rituale wie einen Staatsempfang mit Fahnenmarsch. Es herrscht die schiere Unmöglichkeit, solche Gebräuche zu verändern oder gar abzuschaffen! Jeder Staatspräsident ist von einem “Protokoll” umgeben, eine Art Korsett, das die internationalen Kontakte bis ins letzte Detail regelt. In der Bundesverwaltung gibt es dafür sogar eine Art Zeremonienmeister, eine speziell ausgebildete diplomatische Person, die den Bundespräsidenten instruiert, auf dass er nichts Falsches mache. Anderen Staatsoberhäuptern geht es da nicht besser. Der tschechische Präsident Vaclav Havel hat sich in einem Interview einmal bitter über die protokollarische Strenge beklagt, die ihn dazu zwinge, “unnormal zu leben”. Er halte das Protokoll nur deshalb aus, weil er vom Internat, vom Militär und vom Gefängnis her “trainiert” sei. (Wie erst ist es für einen, der, wie ich, keine dieser Voraussetzungen mit in das Amt brachte...)

So wird ein Rollenträger auf seine Rolle fixiert.

4.2.       Äussere und inhaltliche Erwartungen

Die häufigste Erwartung an einen Bundesrat ist: Er hat Bodyguards. Ständig und von beinahe allen wurde ich darauf angesprochen, auch von Antiautoritären und Linken. Auch in der direkten Demokratie scheint es dieses das Bedürfnis nach einem  Statussymbol zu geben. “Das ist doch das einzige Land, wo ein Bundespräsident ohne Bodyguards herumspazieren kann”, höre ich stets wieder auf dem Markt oder im Bahnhof. Es scheint mir manchmal, da schwinge auch ein wenig Bedauern mit, dass die Macht hierzulande nicht etwas auffälliger, würdiger und gepanzerter daherkomme. Viele hätten lieber einen “richtigen” Auftritt eines Bundesrates, das heisst noch eine kleine muskulöse Entourage mit Knöpfen im Ohr oder zumindest einen Bundesweibel im Hintergrund.

Wichtiger sind die inhaltlichen Erwartungen. Sie unterscheiden sich je nach der politischen Funktion: Ein neuer Parlamentarier soll es „denen in Bern zeigen“. Ein Regierungsmitglied in Frankreich soll mindestens ein Buch schreiben. In der Schweiz sollte es kein „Schöngeist“ sein, sondern er soll die Ärmel hochkrempeln und zupacken. Ein Chefredaktor schrieb 2001: „Der Bundespräsident hält in Genf an der UNO eine schöne Rede zu den Menschenrechten, statt sich den wirklichen Problemen der Schweizer anzunehmen, nämlich dem Stau am Gotthard.“

Auch an zurückgetretene Regierungsvertreter gibt es klare Erwartungen. Sie sollen sich in sozialen Institutionen engagieren, in Pro Juventute oder Pro Senectute. Dass dagegen ein Sozialdemokrat in den Verwaltungsrat einer Baufirma eintritt, entspricht dagegen weniger den allgemeinen Erwartungen.

Damit hängt die Frage zusammen: Kann man aus einer Rolle, die man einnahm, einfach wieder austreten? Niemand kann seine Vergangenheit einfach absreifen. Sie gehört zu ihm, so wie sie aussen wahrgenommen wurde. 

-       (Bsp. Fischli/Weiss: Kann Peter Fischli nach dem Tod von David Weiss ein Künstler sein, der nicht mit dem Begriff des Duos assoziiert wird?

-       Eine Assoziation zur Fixierung auf eine Rolle: Reaktion des Publikums, das sich heute Viscontis Gattopardo anschaut und dort plötzlich Terence Hill als jungen Offizier sieht: An ernster Stelle ungläubiges und heftiges Gelächter. Nach seiner Rolle in Gattopardo hat er nur noch  Klamaukrollen mit Bud Spencer übernommen und wird heute mit diesen identifiziert. Hätte er diesen Nimbus schon vorher gehabt, hätte ihn Visconti nicht für die ernste Rolle engagiert.)

4.3.       Moralisierende Ansprüche

Über die gesetzlichen und moralischen hinaus gibt es moralisierende Erwartungen. In die Repräsentanten werden immer auch Idealvorstellungen projiziert. Trotz Demokratie ist da immer noch die Erwartung in ein Staats-»Oberhaupt«, das über dem »Volkskörper« thront und auch moralische Idealvorstellungen zu repräsentieren hat.

Der deutsche Bundespräsident Wulff posierte auf einem Rasen vor einem Einfamilienhaus mit Gartenzwerg und repräsentierte so viele deutsche Bürger. Das wurde von denen einerseits geliebt, andererseits  verhinderte diese Nähe dann auch etwas grosszügigere Geschenkannahmen. Der ganze Verlauf des Dramas um Bundespräsident Wulff zeigte ein Hin und Her zwischen Repräsentation, Projektion und Moralismus.

Politiker und Beamte stehen unter besonderer Beobachtung, wobei die moralische Empörung meist Teil des politischen Kampfes ist. Jemanden als unglaubwürdig hinzustellen ist Teil des politischen Arsenals. Empörung bedeutet meist Moralisieren und nicht Moral. Sie wird auch im Interesse von Auflagen und Einschaltquoten gepflegt und gar manches Opfer drängt sich scheinheilig ins Scheinwerferlicht. Wohl auch deswegen hat solch öffentliches Moralisieren in den letzten Jahren zugenommen.

-   Ein US-General trat wegen eines außerehelichen Verhältnisses trotz seiner beruflichen Verdienste zurück.

-   Eine deutsche Bundesministerin trat zurück, weil sie Teile der Dissertation vor Jahrzehnten ohne Zitatangabe abschrieb.

-   Vaclav Havel musste öffentliche Vorwürfe hinnehmen wegen seiner Heirat nach dem Tod von Olga.

-   Die moralischen Vorstellungen sind zum Teil sehr maßgeschneidert. Es gibt je nach Person des Politikers verschiedene Ansprüche, je nachdem was man in ihn projektiert: Franz Steinegger wurde nicht als Bundesrat nominiert, weil er damals noch nicht geschieden, aber schon in einer neuen Beziehung lebte. Einige Jahre später haben sich die moralischen Einstellungen etwas gelockert und ich wurde als erster geschiedener Bundesrat überhaupt gewählt. Heute wird laut Statistik jede zweite Ehe geschieden. (Nicht bei allen ist es die zweite Ehe; bei vielen ist es die erste...)

Die recht willkürliche Moralisiererei hat mit echten Diskussionen um Moral kaum etwas zu tun. Wo bleiben da die Errungenschaften der Aufklärung, die im Strafrecht selbstverständlich sind, wie Verjährung, Verhältnismäßigkeit und faire Verfahren? Da werden Verletzungen von moralischen Regeln unter medialem Druck ungleich härter verfolgt als strafrechtliche Tatbestände. Selbst schwere Delikte werden meist mit bedingten Strafen bestraft, damit der Beruf weiterhin ausgeübt werden kann. Auch der Pranger ist längst abgeschafft. Einer gesetzlich geregelten, aufgeklärten Strafjustiz steht aber heute eine moralisch-mediale Lynchjustiz gegenüber. Ihr standzuhalten, braucht es zuweilen einige Widerstandskraft.

In einer Demokratie sollten Beamte oder Regierungsmitglieder so behandelt, also entlassen oder eben nicht entlassen werden, wie alle anderen Bürger. Wieso verlangt man von ihnen ideale Familienverhältnisse?

Parallele: Pfarrerfamilie im Wandel

Beobachten wir die gesellschaftliche Vorbildfunktion am Beispiel der protestantischen Pfarrer. Der klassische Dorfpfarrer predigte christliche Moral und man erwartete von ihm, dass er selber diese Grundsätze einhalte. Die Erwartung ging auch an die Pfarrersfrau. Besonders schwierig war dieser Anspruch für Pfarrerskinder. »Müllers Vieh und sie, geraten selten oder nie«, sagt der Volksmund. Der Wandel der Erwartungen an einen Pfarrer, einen moralisch einwandfreien Lebenswandel zu führen, ist offensichtlich: Mit der Zeit weichte sich diese Autorität auf und die Scheidung einer Pfarrersehe ist heute kein Skandal mehr. Die Pfarrkinder haben die ganz normalen Probleme jedes Kindes in der heutigen Gesellschaft zu bewältigen. Umgekehrt haben sie aber auch keinen Anspruch darauf, allein wegen ihres Elternhauses immer recht und die Moral verinnerlicht zu haben.

5. Die öffentliche Rolle spielen

Bewusste Anpassung

Der Politiker sollte die Erwartungen in die Rolle, die er bekleidet, kennen und er sollte auch versuchen, von aussen zu beobachten, wie er selber die Rolle spielt. Dies bedeutet gewisse Distanz zur eigenen Position, das andernorts mit einer Supervision gelöst wird. Das kann der Politiker zum Beispiel mit einem kritischen Stab organisieren oder dass er sich mit Mitarbeitern aus einer anderen Partei umgibt, wie es früher im Bundeshaus Brauch war.

Die Wähler wollen, dass ihr Auftrag ernst genommen wird. Deswegen wollen sie nicht, dass sich der Amtsinhaber über seine Aufgabe lustig macht, sonst enttäuscht er die öffentlichen Erwartungen. Ironie über die eigene Rolle wird nicht toleriert, schon gar keine Selbstironie!

Beim Durchbruch zum Lötschbergtunnel sprengte ich den letzten Teil durch einen Knopfdruck und sagte dann in die Mikrophone der Medien unglücklicherweise: „Noch selten konnte ich so schnell etwas bewirken.“ Da kam gar nicht gut an; ich solle meine Arbeit und mein Amt nicht lächerlich machen, hiess es. Obama scherzte kürzlich: „Ich muss zuerst die Teaparty fragen..“ Das wurde als völlig deplatziert kommentiert.

Es erleichtert  also die Kommunikation, wenn auf Fragen die erwartete Antwort gegeben wird, auch wenn man gerne etwas anderes sagen würde. Ich musste das lernen und antworte heute auf die Frage „Wie geht es Ihnen?“ mit: „Wunderbar; ich habe nichts zu tun und ich geniesse den Ruhestand.“

Rollenwechsel:

Besonders schwierig wird die Kunst, den Erwartungen gerecht zu werden, bei einem Rollenwechsel. Ich erlebte einen solchen, als ich vom Strafverteidiger zum Justizdirektor des Kantons Zürich wurde, und sich der Fall Zollikerberg zutrug. Setzte ich mich früher als Verteidiger für individuelle Interessen ein, musste (und wollte) ich mich jetzt für „die Allgemeinheit“, für unbekannte Dritte handeln. Das bedeute statistisches Denken mit all seinen Ungerechtigkeiten, statt den Einsatz für ein einzelnes Individuum. Das heisst auch, Gefühle zu verinnerlichen, hinter denen man selber nicht steht, zum Beispiel das Rachebedürfnis der Opfer. Dieses muss auch das Strafmass des Täters beeinflussen. Nur so kann langfristig die Errungenschaft des staatlichen Strafmonopols gewahrt werden. Wenn der tatsächlich vorhandene Vergeltungstrieb nicht irgendwie berücksichtigt wird, würde die Gesellschaft in die Privatrache zurückfallen. (Auch die Rolle der Psychiatrie wurde vom Fall Zollikerberg verändert.) Meinen damaligen Rollenwechsel habe ich ausdrücklich als solchen erklärt und öffentlich dargelegt. Das wurde von den früheren Berufskollegen und meiner Partei verstanden und akzeptiert.

Der Wechsel vom Parlament in die Regierung gelingt nicht immer. Mitterrand schlüpfte von einem Tag zum anderen perfekt in die Präsidentenrolle. Hollande gelang das weniger gut und so musste er auf dem Roller Trost bei der Freundin suchen. Robert Neukomm trat als neu gewählter Stadtrat ohne Krawatte und in Jeans an Polizeivereidigung auf, was ihm jahrelang vorgeworfen wurde.

Kann ein Regierungsmitglied nach dem Rücktritt wieder in das Parlament? Ein solcher Rollenwechsel in unseren Nachbarländern gang und gäbe, bei uns aber beinahe schon systemwidrig. Was in einem System mit Mehrheitsregierung und Opposition üblich ist, funktioniert bei uns nicht. Jahrelanges Politisieren als Bundesrat im Kollegialsystem prägt das Denken derart nachhaltig, dass ein Zurück in das Parlament undenkbar ist. Die eine bekannte Ausnahme war nur deshalb möglich, weil sie mental die Oppositionsrolle gar nie verlassen hat, auch als sie kurze Zeit Bundesrat war.

Unbewusste Verinnerlichung

Der Politiker übernimmt allmählich, oft unbewusst, die Erwartungen, um sich in der Rolle zu gefallen.

Das kann sich schon bei der Kleidung zeigen: Die damalige Bundesratskandidatin Christiane Brunner wechselte innerhalb von drei Monaten von „Leginhosen“ (von denen sie im ersten Interview sagte, sie werde darin auch vor Soldaten auftreten, wenn sie das Militärdepartement erhalte) bis zum schwarzen Deux Piece, als es langsam ernst galt. Ich wechselte von schwarzen zu weissen Hemden, nachdem ich laufend Briefe erhielt, ich solle mich nicht wie ein Architekt kleiden. Solche Anpassung kann zu eigentlichem Uniformzwang führen, wie uns Banker zeigen.

Die Funktion steuert auch die Art der Bewegungen, den ganzen Habitus: Ein Ständerat schreitet anders als ein Nationalrat. Ein Parlamentarier spricht schnell, ein Bundesrat langsam. Die Papabili für den Bundesrat verleiben ihre kommende Würde schon früh ein. Als ich glaubte, für eine Kandidatur noch zu zaudern, sagte mir eine vertraute Nationalrätin: „Gell, du hast dich entschieden zu kandidieren. Ich sehe es daran, wie du durch den Saal gehst.“

Das Amt verändert. Zu Beginn meiner Amtszeit scheute ich mich, Autobahnen zu eröffnen oder Bänder zu durchschneiden und vor den Fotografen zeigte ich mich mürrisch und unwillig. Am Schluss schnüffelte ich freiwillig an Auspuffen und inszenierte mich ungeniert als Fotosujet. Solche Entwicklungen können gefährlich werden. Mit der Zeit glaubt der Politiker, die Zuhörer fänden seine Witze tatsächlich lustig. Dabei ist es nur ein hierarchisch bedingtes Lachen. Mit der Zeit gewöhnt e sich daran, ständig dreinzureden und andere nicht ausreden zu lassen, auch zuhause. Mit der Zeit meint er wirklich, er wisse zu Allem und Jedem eine Antwort und er spricht ständig ex cathedra. Er glaubt, die Leute interessieren sich für ihn als Menschen, dabei interessieren sie sich nur für seine Rolle. (Ich erlebte einen Bundesrat, der konnte stundenlang nur von sich erzählen. Er hat das dann aber gelegentlich realisiert und seinem Gegenüber jovial gesagt: „Ach, ich erzähle immer nur von mir. Jetzt sollen doch mal Sie zu Wort kommen. Sagen Sie mal: Wie fanden Sie meine kleine Ansprache, die ich gestern hielt...“)

Abheben in den Olymp

Diese Spirale der Selbstüberschätzung führt letztlich zum Abheben in den Olymp der Götter, auch im privaten Verhalten: DSK ist ein solches Beispiel. Dürrenmatt spitzt dies in „Abendstunde im Spätherbst“ noch etwas zu. Ein Starschriftsteller, den das Publikum als Gott verehrt, verkehrt als Folge in anderen moralischen Sphären und darf sich Vergewaltigung und Mord erlauben. Er war allerdings Schriftsteller und nicht Politiker, der wieder gewählt werden muss. Ihm können schon Selfies gefährlich werden.

Das Abheben des Repräsentanten von den Repräsentierten und die damit verbundene Abschottung sind einer politischen Position immanent, auch derjenigen in einer direkten Demokratie. Gegen diese Gefahr können Massnahmen organisiert werden: Die Gewaltenteilung, die Ämterrotation oder indem man sich gedanklich in die Position der Gegner versetzt.

Überanpassung

Das wiederum kann zu einer Überanpassung, zu einem stetigen Schielen auf die öffentliche Meinung führen. Ich habe im Amt zunehmend darunter gelitten, wie jede Aussage in einem Interview oder einer Rede mit der Frage kontrolliert und korrigiert wurde: „Wie könnte das falsch verstanden werden?“ „Wie könnte der Satz bösartig ausgelegt werden?“ Nicht nur führt dies in politischen Mitteilungen zu einer Fülle von Wörtern wie „allenfalls“, „mutmasslich“, „“von Ausnahmen abgesehen“, die schliesslich jeden klaren Text verwässern, sondern aus dem ständig vorhandenen Misstrauen und aus der Verunsicherung wächst eine Hemmung, ja eine diffuse Angst, welche nur nach negativen Reaktionen schielt und das eigene Denken und Fühlen beherrscht. In der verminten Zone des Misstrauens reagieren dann viele Verantwortliche all zu ängstlich und nutzen nur noch abgeschliffene Phrasen, um ja alle Irrtümer oder falschen Interpretationen zu vermeiden.

Reformation und Neuinterpretation der Rolle

Wenn ein Politiker nur die Rolle, die von aussen erwartet und definiert wird, übernimmt, verändert er die Gesellschaft nicht. Erst wenn er sie neu interpretiert, bewegt er etwas. Der Präsident von Paraguay, der in einer Wellblechhütte wohnt und sein Einkommen an die Armen weitergibt. Der neue Papst überraschte auch mit einer Neuinterpretation seiner Rolle und kann vielleicht innerhalb der katholischen Kirche etwas bewegen.

Aber auch diese Neuinterpretation bedeutet nicht eine Befreiung des Rollenträgers. Auch in der neu interpretierten Rolle will und muss er „etwas sein“. Er hat einfach die Definition an sich gerissen und er entspricht anderen Erwartungen als den bisherigen. Seine Rolle prägt dennoch auch seine Person.

Die Trennung in Person und Politiker, in Mensch und Funktion ist ohnehin fiktiv. Gewiss versuchen Medien, diese Trennung vorzunehmen und sich nur auf die Person zu konzentrieren. Mit Homestories, mit „ganz privaten Fragen“ möchten sie den Menschen hinter der Rolle zeigen. Doch die gesellschaftliche Funktion ist Bestandteil seiner Person so wie es seine Stimme, sein Aussehen, seine äussere Erscheinung sind. Diese gesellschaftliche Stellung ist ja auch durchaus eine private Attraktion oder Abschreckung. Gesellschaftliche Macht kann sexy oder degoutant sein, je nach Standpunkt. Wir wissen von Stars, die umschwärmt werden (wie Motten das Licht) und von solchen, die einsam und depressiv werden, weil sie keine echten Freunde mehr finden.

6. „Sie“ in Sitzung, „Du“ in Pause

Marilyn Monroe hatte ein Verhältnis mit John F. Kennedy.

Aber in der Öffentlichkeit sang sie für ihren Freund: „Happy Birthday, Mr. President“. Es gibt dazu eine helvetische Parallele. Im Bundesrat und in kantonalen Regierungen verkehren die Mitglieder per Sie, sagen sich also „Herr Finanzminister“ etc. In der Kaffeepause werden zwar keine Kosenamen wie zwischen Marilyn und John F. gehaucht, aber immerhin, es gibt keine Sitzordnung und die Regierungsmitglieder verkehren per Du. Dort werden dann auch die Kompromisse bei wesentlichen Differenzen gefunden.

Das gilt auch international: Der rumänische Außenminister Andrei Plesu schildert in seinen Erfahrungen über Sitzungen und anschließenden Lunchs: „Es ging mit Lachs und Milosevic los, es folgten Roastbeef und die NATO – Strategie, und beim Apfelstrudel wurden Embargos und Sanktionen vorgeschlagen.“

Das zeigt: Wenn aus der Schablone der zugeteilten Funktion getreten wird, ist der Kompromiss möglich. Erst dann kann gesellschaftlicher Wandel vollzogen werden. (Der Kompromiss ist ein politischer Wert, kein psychoanalytischer.)

Das zeigt zusammenfassend: Ein Amt, eine Rolle prägt uns und unseren Charakter. Dabei dürfen wir es aber nicht bewenden lassen, sonst werden wir unserem Anspruch nicht gerecht, die Gesellschaft zu verändern. Wir müssen also aus den Erwartungen an die Rolle ausbrechen, um sie neu zu gestalten. Das können wir mit Massnahmen, wie Selbstbeobachtung, Aufbau von Kontrollorganen, familiären Diskussionen oder Kaffeepausen.

Zur Frage Ihrer Veranstaltung, nämlich nach der persönlichen Freiheit, die uns ein Amt lässt:

Keine gesellschaftliche Funktion erlaubt absolute individuelle Freiheit, auch eine Mutter ist nicht ganz frei, auch ein Psychiater ist nicht frei zu sagen, was er denkt. Ein öffentliches Amt unterliegt einer viel grösseren Aussendefinition als eine andere Funktion. Je mehr eine gesellschaftliche Rolle sozial vernetzt ist, je mehr sie vom öffentlichen Scheinwerferlicht beobachtet und damit auch öffentlich umschrieben, fixiert und definiert wird, desto weniger lässt sie es dem Rollenträger zu, sich selber sein zu dürfen. So wie John le Carrés Spion an der politischen Mauer erschossen wurde, als er aus der Kälte in die Menschlichkeit kam, so wird ein Politiker nie aus dem Korsett seiner öffentlich umschriebenen Rolle treten können.

(Aber wer weiss: Vielleicht öffnen sich nach dem Rücktritt aus dem politischen Amt allenfalls Türen, hinter welchen sich vielleicht eine mutmassliche Freiheit versteckt.)