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Soll der Staat das Glück der Menschen fördern?


Moritz Leuenberger - Rede beim Neujahrsempfang in Konstanz, 22. Januar 2007

Dies ist ein Neujahrsempfang und zum neuen Jahr wünscht man sich auf der ganzen Welt Glück - ausser in Konstanz, denn, so lehrt uns die allererste Überschrift auf der Homepage Ihrer Stadt:

„Wer hier lebt, hat wirklich Glück!"

Da ist natürlich jeder weitere Wunsch überflüssig. Wer angesichts einer solch offiziellen Wahrheit trotzdem noch Glück wünscht, könnte gar in den Verdacht geraten, er bezweifle eine amtliche Feststellung. Zum Glück ergibt ein zweiter Blick auf die Konstanzer homepage, dass Ihr Oberbürgermeister höchstpersönlich, in den Neujahrsgrüssen ganz offiziell zum Pleonasmus greift und „ein glückliches 2007" wünscht. Da fühle ich mich dann doch legitimiert, Ihnen auch ein glückliches neues Jahr zu wünschen.

Als Vertreter der Wirtschaft möchten Sie von einem Politiker allerdings wohl etwas mehr als einen blossen Glückswunsch. Sie möchten, dass er für Ihr Glück auch etwas unternimmt. Als Handwerkskammer wissen Sie: Handwerk hat goldenen Boden. Aber der Staat soll ihm nicht ständig mit Auflagen und Vorschriften den Boden unter den Füssen wegziehen, sondern er soll die nötigen Freiheiten gewähren, damit dieser goldene Boden auch wirklich bestellt werden kann. Auf der anderen Seite wissen Sie auch: Jeder ist seines Glückes eigener Schmied und Sie möchten sich verbeten haben, dass der Staat an Ihrem Glück mitschmiedet; da hat er sich nicht einzumischen.

Was ist also die Aufgabe des Staates oder der Staatengemeinschaft gegenüber dem Glücksstreben der Menschen?

Ich möchte drei Fragen auseinander halten:

  1. Hat der Staat die Menschen vor Unglück zu verschonen?
  2. Soll der Staat den Menschen ermöglichen, glücklich zu sein?
  3. Hat der Staat das Glück des Einzelnen zu fördern?

1. Vermeidung von Unglück

Wenn wir beim Gegenteil von Glück beginnen und die Frage stellen „Hat der Staat Unglück zu vermeiden?", ist die Antwort klar: Ja, denn der Staat hat zuallererst eine Schutzfunktion.

Er muss seine Bürger vor äusseren Angriffen, Krieg und Terror schützen.

Eine geradezu glückliche Umschreibung von Krieg und Frieden findet sich übrigens im Internet auf der Zeittafel von Konstanz, nämlich:

„Barbarossa beschliesst 1153 (in Konstanz) einen Feldzug gegen die lombardischen Städte. Der Friede mit dem lombardischen Städtebund wird von Barbarossa 1183 wieder in Konstanz abgeschlossen."

Nichts als Frieden! Ich habe noch nie eine knappere und sanftmütigere Beschreibung der frühen europäischen Geschichte mit ihren Intrigen um des Kaisers Bart und des Papstes Stuhl gelesen.

Um die Bürger zu beschützen, verhindert der Staat auch Verbrechen mit Polizei, mit Strafrecht, mit Prävention und Opferhilfe.

Und der Staat muss zum Schutz seiner Bürger garantieren, dass der Betrieb von technischen Anlagen unfallfrei verläuft, ob er nun selber der Betreiber sei oder nicht. Wer eine Eisenbahn betreibt, muss sie sicher betreiben und -  ich komme um diese Bemerkung hier in der Nähe von Überlingen nicht herum -, wer den Flugverkehr regelt, muss ihn sicher regeln - wenn nötig auch grenzüberschreitend und in Zusammenarbeit mit anderen Staaten.

Auch vor Naturgewalten hat der Staat zu schützen. Mangelhafte Anlagen gegen Hochwasser in den Bergen oder unterlassene Massnahmen gegen Überschwemmungen des Meeres in New Orleans gelten als Verrat an den betroffenen Menschen, als fahrlässige Inkaufnahme eines Unglückes.

Aber manchmal wird das Glück der Wanderer im Naturschutzgebiet höher gewichtet als die Vermeidung eines Unglückes um jeden Preis . Am Bodensee werden Unwetterschäden teils bewusst in Kauf genommen. Die natürlich schwankenden Wasserstände wurden nicht mit technischen Massnahmen ausgeglichen, obwohl das der Schifffahrt dienen würde.

Der Staat darf sich nicht mit dem Schutz vor bekannten Gefahren begnügen. Er muss die Bürger auch vor potentiellen Risiken schützen. Aus diesem Grund kennen wir das Vorsorgeprinzip.

Nach dem Vorsorgeprinzip soll nicht erst dann eingegriffen werden, wenn eine menschliche Handlung Schaden angerichtet hat. Schaden soll gar nicht erst entstehen können.

Die Folgen der Strahlung von Handys und Handyantennen sind immer noch unklar. Deswegen sind relativ weitgehende Vorsorgewerte geschaffen worden, ohne dass bewiesen werden könnte, ihre Überschreitung gefährde die Gesundheit. Wegen dieser Beweislastverteilung kritisieren Telekommunikationsgesellschaften die Vorsorgewerte als wirtschaftsfeindlich. Das Vorsorgeprinzip erschwere technologische Entwicklungen, die den Lebensstandard heben und damit eben neue Formen des Glücks ermöglichen, nämlich ständig am Handy zu hängen.

Vor einer sehr schwierigen Situation stehen die Basler Behörden: Das hoffnungs- und zukunftsträchtige Projekt der Geothermie ist durch leichtere Erdbeben gefährdet. Es gilt nun abzuschätzen, ob das Risiko neuer Beben oder die Chance einer erneuerbaren Energie grösser gewichtet werden.

Das zeigt: Wer Neues wagt, darf damit die Sicherheit anderer Menschen nicht gefährden. Damit beginnen die ersten Zielkonflikte mit dem individuellen Glück: Das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit und Schutz steht oft im Widerspruch zur Freiheit. Politik besteht immer in einem Abwägen von Risiko und Sicherheit, auch im Verbraucherschutz oder in der Verkehrspolitik. Auch die Wirtschaft macht diese Risikoabwägung: zunehmend versichern sich auch kleinere und mittlere Unternehmen nicht nur gegen materielle Risiken, sondern auch gegen Managementfehler. Und für beide, Politik und Wirtschaft, gilt bei dieser Abwägung: wer wenig zu verlieren hat, ist eher risikofreudig, wer schon viel besitzt, ist eher sicherungsbedürftig.

2. Der Staat soll das Wohlbefinden garantieren

Schon nur, wenn wir uns darauf beschränken, Unglück zu vermeiden, geraten wir in der Tagespolitik in einen Zielkonflikt: Wir sind hin und her gerissen zwischen dem Sicherheitsglück auf der einen und dem Freiheitsglück auf der andern Seite.

Noch schwieriger wird es bei der Frage, ob der Staat nicht nur Unglück vermeiden, sondern den Menschen das Streben nach Glück ermöglichen soll.

In der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wurde das Streben nach Glück ausdrücklich als unveräusserliches Recht deklariert, neben dem Recht auf Leben und Freiheit. Heute wollen alle westlichen Staaten ihren Bürgern Wohlstand garantieren und ihnen ermöglichen, ihr Glück zu finden. Sie wollen einen möglichst breiten Raum schaffen, in welchem das Individuum sich sein Glück definieren und erstreben kann. Wir alle wissen, dass das Glücksgefühl der Menschen nicht von den erreichten Glücksgütern abhängt, sondern von der eigenen Glücksfähigkeit. Doch auch diese Fähigkeit kann der Staat fördern. Es gibt in der britischen Regierung einen Glücksspezialisten, der diese in Fragen des Glücklichseins der Menschen berät. Wir haben in der Schweiz keinen solchen Berater und auch kein eigentliches Glücksdepartement, aber unser Regierungsglück ist dennoch garantiert durch die Anzahl der Bundesratsmitglieder. Sie ist in der Verfassung festgeschrieben und entspricht der Glückszahl Sieben.

Was ist Glück? Das ist nicht der Lotteriegewinn und Glück besteht auch nicht darin, dass der andere unter den Baum des Orkanes gerät und nicht ich. Glück ist ein innehaltender Moment der Dankbarkeit für das, was ich bin, weniger als das, was ich haben kann. Über diese Glücksgefühle und darüber, was sie auslöst, wird geforscht. Es gibt an staatlichen Universitäten das Unterrichtsfach. „Wie lebe ich ein glückliches Leben". Aus dieser Forschung und Beratung gibt es einige Erkenntnisse darüber, was am meisten zum individuellen Glück beiträgt. Ich nenne, um bei der Symbolik zu bleiben,

Sieben Elemente des Glücks:

1. Gesundheit

Die Glücksforschung sagt, Gesundheit leiste einen stärkeren Beitrag zur Lebenszufriedenheit als fast alles. Es ist ja kein Zufall, dass wir uns zum neuen Jahr nebst Glück auch und vor allem Gesundheit wünschen. Deswegen muss der Staat möglichst gute Voraussetzungen schaffen, um Krankheiten zu bekämpfen und deswegen haben praktisch alle Staaten ein Gesundheitswesen und deswegen gehört die medizinische Hilfe zum Ersten, welches Hilfsorganisationen leisten.

2. Liebe

Die Glücksforschung hat auch herausgefunden, dass verheiratete Menschen im Durchschnitt glücklicher sind als Unverheiratete, was in der bekannten Hochzeitsstadt Konstanz besonderer Erwähnung bedarf. Der Staat kann dafür sorgen, dass alle die Möglichkeit haben, sich mit dem Partner ihrer Wahl zu verbinden. Dies ist mit ein Grund, dass gleichgeschlechtliche Trauungen in der Schweiz seit Beginn dieses Jahres erlaubt sind. Es geht also nicht um eine staatliche Benotung oder Bewertung der sexuellen Neigungen, sondern darum, allen Menschen eine glückliche Geborgenheit zu zweit zu ermöglichen.

3. Wohlstand

Der materielle Wohlstand hat einen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit, allerdings laut Glücksforschung nur bis zu einem existenzsichernden Einkommen. Oberhalb dieses Niveaus verflache der Effekt. Steigende Einkommen führen also nicht linear zu grösseren Glücksgefühlen. Sonst wäre ja nicht auszudenken, wie glücklich Spitzenmanager und umgekehrt wie unglücklich alle andern Menschen sein müssten.

4. Freiheit

Nicht alle begnügen sich für ihr Glück mit Gesundheit, Ehe und Existenzminimum. Manche wollen mehr, Nervenkitzel, Abenteuer, entfesseltes Draufgängertum. Die Wirtschaft z.B. sieht ihr Glück in der Freiheit. Wenn die Fesseln fallen und jeder für sich selber verantwortlich ist, kann sich der Wettbewerb ungehindert, frei und glücklich entfalten. Aber: Wo es glückliche Gewinner gibt, gibt es auch unglückliche Verlierer. Das mag den Markt nicht kümmern, wohl aber den Staat.

Wird in einer Gesellschaft die Ungleichheit zu gross, kommt es zu sozialen Konflikten. In einem Klima von Neid und Revolte aber kann keine Freiheit für alle gedeihen. Darum sucht der Staat den Ausgleich, um das Glück aller zu ermöglichen. Er schafft die Voraussetzungen, damit seine Bürger das Glück suchen können, aber dass sie das nicht auf Kosten anderer Glück suchender Bürger tun.

5. Gleichheit

Zunächst soll jeder Mensch, jeder Marktteilnehmer die gleichen Voraussetzungen haben, um sein Glück finden zu können. Das bedeutet Chancengleichheit. Sie ist die Hauptaufgabe des Staates.

Soll der Staat darüber hinaus für eine Nivellierung sorgen, d.h. denjenigen, die unermessliches materielles Glück ansammeln, eine Grenze setzen? Soll er zum Beispiel die Managerlöhne gesetzlich beschränken?

Wir kennen die Diskussion um Managerlöhne, die nicht in allen Kulturkreisen gleich verläuft. Im Gegensatz zu Amerika, wo das individuelle Glücksstreben stark im Vordergrund steht, ist der Gedanke des Ausgleichs in Europa präsenter. Wir sehen das schon in der einheitlicheren Architektur, wo auf Gleichheit grossen Wert gelegt wird. Vergleichen wir damit die rivalisierenden Wolkenkratzer Manhattans, entdecken wir eine völlig andere Einstellung zu Gleichheit und Wettbewerb. Natürlich gibt es Gegenbeispiele, historische wie die ebenfalls rivalisierenden Türme von San Gimignano, aktuelle, wie das so genannte Manhattan am Main und die dort ebenfalls in Unermessliche wachsenden Managerlöhne.

Soll der Staat solche Auswüchse unterbinden oder soll er im Gegenteil die wirtschaftliche Freiheit fördern?

Der Staat hat einen Kompromiss zwischen Freiheit und Gleichheit zu finden. Das tut er, indem er die Grundversorgung gewährleistet. Bis zu einem gewissen Niveau wird ein Einkommen oder ein Zugriff auf ein staatliches Angebot garantiert, das bedeutet Gleichheit. Über diesem Niveau herrscht Freiheit. Der Staat gewährleistet längst nicht mehr das blosse Existenzminimum, heute gehören der Kinobesuch und die Theatervorstellung, der Telefonanschluss und das Recht auf Ferien dazu. Das sind individuelle Ansprüche. Darüber hinaus - nicht individuell einklagbar, aber als politische Verpflichtung gibt es das staatliche Grundangebot, das wir mit dem Begriff „service public" umschreiben. Dazu gehören gute Infrastrukturen und ein funktionierendes Gesundheitssystem ebenso wie der Anspruch auf Sozialleistungen und auf ein gutes Bildungsangebot.

Der Staat sorgt für gute Verkehrsverbindungen und Breitbandanschlüsse nicht nur in den Wirtschaftszentren, sondern auch in wirtschaftlich schwächeren Regionen.

Rein ökonomisch betrachtet mögen diese Investitionen nicht immer einleuchten, aber politisch sorgen sie für Stabilität und nachhaltige Entwicklung.  Aus dieser Erkenntnis heraus investiert Deutschland enorme Summen in den Wiederaufbau des Ostens, und nach demselben Grundsatz organisiert die EU den Ausgleich zwischen den europäischen Nationen. Als Vertreter eines Landes, das nicht der EU angehört, möchte ich erwähnen, dass die Schweizerinnen und Schweizer im letzten Herbst „JA" gesagt haben zur Kohäsionszahlung an die Oststaaten der Europäischen Union. Auch viele Europa-Skeptiker in unserem Land haben eingesehen, dass eine derartige Solidarität zu Stabilität auf unserem Kontinent führt. „Solidarität" und „solid" haben denselben Stamm.


Das gilt auch global: 1,2 Milliarden Menschen, ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt in Armut. Wir wissen alle, dass ökonomische Ungleichheiten immer die Ursache von Revolten oder Terrorismus sind, letztlich auch von religiös motivierten. Deswegen will der Millenium-Gipfel der UN bis 2015 die Zahl der Armen halbieren.

6. Demokratie, Stabilität und Ordnung

Zum Glück gehört aber mehr als die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse. Der Mensch ist ein soziales Wesen, ein zoon politicon, er strebt nach Höherem, er will sein Glück auch in der Gemeinschaft finden.

Die Arbeiten des Schweizer Sozialforschers Bruno Frey zeigen, dass die Demokratie die Menschen froher mache. Die aktive Teilnahme an gesellschaftlichen Entscheidungen sei befriedigend, weil das Handeln demokratisch gewählter Regierungen im Einklang mit den Wünschen der Bevölkerung stehe. Dazu gehört in der direkten Demokratie die Gewissheit, über jedes Gesetz abstimmen zu können und das letzte Wort zu haben. Eben diese Gewissheit trägt dazu bei, dass in der Schweiz Wahlen kaum je radikale Änderungen der Regierungszusammensetzung zur Folge haben.

Dennoch ereignete sich vor drei Jahren in der Schweiz ein eigentliches politisches Erdbeben. Es bestand darin, dass in der seit über fünfzig Jahren parteipolitisch unveränderten Zusammensetzung der siebenköpfigen Regierung ein christdemokratischer Sitz durch einen der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei ersetzt wurde. Trotz dieser Veränderung und trotz unseres jährlich rotierenden Bundespräsidiums gelten wir als stabiles Land. Ich bin denn auch der mit Abstand amtsälteste Verkehrs- und Umweltminister auf dem europäischen Kontinent. Diese Stabilität wird gelegentlich als langweilig apostrophiert. Und doch trägt auch sie zum Wohlbefinden der Menschen bei, wie die Glücksforschung ergeben hat. Auch die Wirtschaft hat in der Regel lieber stabile Verhältnisse, selbst wenn sie sich die Regierung oder den einzelnen Minister wirtschaftsfreundlicher vorstellen könnte. Zu wissen, woran man ist, ist oft ein grösserer Wert, als kurzfristig einen Verbündeten zu haben, der demnächst ohnehin wieder abgelöst wird.

In auffallend vielen demokratischen Ländern, etwa in Kanada, Tschechien, Holland, Deutschland und Oesterreich, endeten in den letzten Jahren die Wahlen mit äusserst knappen Resultaten. Es ist die Zeit der grossen Koalitionen. Steckt dahinter etwa auch der Wunsch nach Stabilität? Diese unfreiwilligen Koalitionen mögen in vielen Fällen unvertraut sein, auf Dauer aber dürften sie stabilere politische Verhältnisse schaffen, als wenn mit jeder Wahl abrupte Regierungswechsel einhergehen. Dies kann auch das Vertrauen in die Politik vergrössern.

7. Gegenseitiges Vertrauen

Der Staat sorgt mit Regeln dafür, dass seine Bürger sich an Normen halten, die das gegenseitige Vertrauen sicherstellen. Deshalb gibt es ein Strafrecht, Regeln über die Ehe, über das ausservertragliche und das vertragliche Schuldverhältnis. Dabei übernimmt der Staat moralische Regeln und schreibt sie vor:

  • unser Zivilgesetzbuch verpflichtet jedermann, nach „Treu und Glauben" zu handeln und schützt den „guten Glauben",
  • das Obligationenrecht macht die "guten Sitten" zur Bedingung eines Vertrages.
    Mit denselben Begriffen regelt auch bei Ihnen das Bürgerliche Gesetzbuch die menschlichen und wirtschaftlichen Beziehungen.

Der Staat allein kann die Einhaltung dieser moralischen Normen nicht garantieren. Auch mit jeder Polizeigewalt nicht. Die Quelle dieser Normen, welche die Grundlage des Vertrauens unter den Menschen bilden, findet sich bei den Menschen selbst, und gespeist wird sie unter anderem von den Religionen und der Kultur. Diese Werte sind über Jahrhunderte entwickelt und bis heute weiter gegeben worden. Sie haben das Gewissen von Generationen geweckt und geschärft. Unser ganzes Denken, Empfinden und Handeln ist davon geprägt.

Jede Gesellschaft muss die Regeln des Zusammenlebens immer wieder neu gestalten. Das ist ein kultureller Vorgang. Auch politische Fortschritte sind immer kulturelle Leistungen.

Die Aufklärung bereitete der französischen Revolution den Weg. Diese stürzte den Absolutismus und das Patriziertum auch bei uns und ermöglichte mit demokratischen Strukturen die Handels- und Gewerbefreiheit, auf der die Handwerkskammer erblühte.

Dieser Ort hier, das Konzilgebäude, ist das beste Beispiel für die Verflechtung von Religion, Wirtschaft, Politik und Kultur. In ihm wurde ein Papst gewählt (Martin V. 1417), es diente über Jahrhunderte als Warenlager und Handelshaus, heute ist es ein Veranstaltungszentrum, in dem Politiker und Wirtschaftsleute ihre Neujahrsglückwünsche austauschen.

Der Staat ist also auf Religion und Kultur angewiesen. Sie bilden die moralische Grundlage der Gesellschaft, die individuelles Glück ermöglicht. Deswegen garantiert der liberale Staat Kultur- und Religionsfreiheit in seinem eigenen Interesse. Auch die Wirtschaft kann nur dank dem religiösen und kulturellen Grundkonsens funktionieren.

Deswegen pflegt eine Stadt wie Konstanz die beeindruckend vielen Kultureinrichtungen: Stadttheater, Philharmonie, Kulturzentrum. Auch deswegen bezahlt die Wirtschaft Steuern, und deswegen sponsert sie sie auch - zum Beispiel die Bibliothek der Universität Konstanz. Das ist nicht Werbung, das ist Pflege der geistigen Infrastruktur, auf die wir alle angewiesen sind.

Konstanz kennt denn ja auch eine eigentliche Tradition eines vorbildliche Sponsorings: Die Bibliothek der Universität Konstanz wird schon lange durch Banken, Firmen, Medien und Privatsponsoren unterstützt. Und die Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz wirbt mit dem Slogan: "Philharmonie goes Business".

3. Hat der Staat das individuelle Glück des Einzelnen zu fördern?

Der Staat hat also Unglück von seinen Bürgerinnen und Bürgern fernzuhalten und er hat die Chancengleichheit zu garantieren, damit die Menschen ihr Glück finden können.

Soll er auch bestimmen, was Glück ist und was nicht? Und: Soll er seinen Bürgern zum Glück, wie er, der Staat, es definiert, verhelfen?

Ich meine nicht die Einschränkung der individuellen Glücksvorstellung, um Dritte und den Betroffenen vor schädlichen Folgen zu schützen. Das ist selbstverständlich. Deswegen werden gewisse Drogen nicht zugelassen, obwohl sie kurzfristig Glücksgefühle vermitteln oder Glücksspiele werden minutiös definiert und verboten, wenn sie von den staatlichen Regelungen abweichen.

Nein, ich frage, ob der Staat das Glücklichsein umschreiben soll.

Verschiedene Staaten haben das immer wieder getan, auch Demokratien. Sie propagierten, es sei das höchste Glück, für das Vaterland sterben zu dürfen, sie verboten das Konkubinat. Andernorts wird die Anzahl Kinder staatlich vorgegeben. In Italien wurde vor wenigen Monaten einem Tetraplegiker der Freitod staatlich verweigert.

Das kann nicht die Rolle des Staates sein. Nur totalitäre Regimes massen sich an, zu bestimmen, was das individuelle Glück sein soll. Glück wird immer vom Individuum definiert, nicht von einer übergeordneten Instanz.

Die Vorstellungen darüber, was Glück und was der Weg zum Glück ist, haben sich über die Jahrtausende verändert. Die griechischen Philosophen, das Mittelalter, die Renaissance, die Aufklärung und Thomas Gottschalk hatten ihre Vorstellung von Glück. Und stets gab es auch die Antithesen und die Gegentendenzen. Heute, in einer offenen Gesellschaftsordnung, sind die Vorstellungen der Menschen über Glück einem Regenbogen gleich, der von Ost bis West in allen nur erdenklichen Farben schillert.

Viele Kräfte beeinflussen die Vorstellungen über das Glück: Freizeitindustrie, Kleidungsindustrie, Parfumindustrie, Pharmaindustrie, Werbeindustrie, Medienindustrie, der Yogalehrer, die Tantralehrerin, und all die anderen Verführerinnen und Verführer.

Wenn wir uns nun schon darüber einig sind, dass der Staat den Menschen die Voraussetzungen dazu schaffen muss, damit sie ihr Glück erlangen, dann ist es auch seine Aufgabe, die Bürger vor Glücksverheissungen zu schützen, die ihm schaden können, vor der Tabakwerbung, vor Sekten, vor Korruption.

Aus demselben Grund soll der Staat den Bürgern nahe legen, was er, der Vertreter der Gemeinschaft, unter Glück versteht. Deswegen darf er Vorlesungen über diese Fragen an Universitäten finanzieren. Deswegen soll er auch über richtige Ernährung, über Vermeidung von Krankheiten informieren. Und deswegen soll er auch darüber aufklären, dass der Einsatz für das Gemeinwohl glücklich machen kann.

Er soll zeigen, was es für ein Glücksgefühl sein kann, Verantwortung zu übernehmen, für andere da sein zu können, sich für die Gemeinschaft einzusetzen.

Immer wieder wird Verantwortung als eine Last bezeichnet. Das stimmt nicht. Schon Kinder übernehmen gerne Verantwortung; sie möchten auf ein anderes Kind aufpassen dürfen, kochen oder ein Tier pflegen. Wie viele Menschen sind erfüllt, wenn sie anderen Menschen helfen können. Ohne die Freiwilligenarbeit könnten unsere Gemeinschaften wohl kaum existieren. Ohne Freiwilligenarbeit wären aber auch viele aktive Menschen unglücklich, weil sie sich nicht verwirklichen könnten.

Die Demokratie macht die Menschen froher, hat die Sozialforschung festgestellt. Die aktive Teilnahme an gesellschaftlichen Entscheidungen ist befriedigend, weil das Handeln demokratisch gewählter Regierungen im Einklang mit den Wünschen der Bevölkerung steht. Das soll der Staat auch vermitteln. Die Schweizer Bundesverfassung will ausdrücklich, dass sich alle Personen für das Wohl der Gesellschaft einsetzen. Alt Bundeskanzler Helmut Schmidt fordert zusammen mit anderen ehemaligen Staatschefs, als Pendant zur Erklärung der Menschenrechte, eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten.

Die Vorstellung vom glücklichen Leben unterliegt den Modeströmungen wie alle Philosophien und politischen Ideologien, wie Kleider, Musik und Schuhe. Die Vorstellungen einer idealen Gemeinschaft, eines idealen Staates ebenfalls. Jeder Staat wird also zu jeder Zeit eine andere Vorstellung des Glückes propagieren. Und weil er das wissen muss, darf er seine gerade aktuelle Vorstellung nie durchsetzen wollen. Er muss jede individuelle Vorstellung des Glücks zulassen. Er darf niemanden zu seinem Glück zwingen. Wenn sich die Menschen nicht an der Gemeinschaft beteiligen wollen, ist das ihr Recht. Zu mehr als einer Suggestion ist der Staat nicht legitimiert und er verbietet sich dies auch selber.

Es bleibt bei der Erkenntnis des alten Fritz: Jeder soll auf seine eigene Façon glücklich werden können. Glück ist für den einen „reich, blond und honigdick", für den anderen bedeutet es, als guter Mensch zu gelten, für wieder andere, Verantwortung übernehmen zu können und schliesslich gibt es den Hans im Glück, der sich sowohl um materielle Reichtümern als auch um das Gespött der Leute schert.

Ein Sinnbild dafür steht hier in Konstanz unübersehbar am Hafen: Die Imperia, die Beton- Kurtisane, die arglose Stadtbesucher in Staunen versetzt. Sie balanciert einen nackten Papst und einen nackten König in ihren Händen, und sie scheint zu sagen: Achtung, ihr mächtigen Herren, eure Herrschaft ist beschränkt. Es gibt Kräfte, die sind durch keine weltliche und keine geistliche Macht zu bändigen. Die suchen sich ihren eigenen Weg zum Glück.

Eine Stadt, die ihr Wahrzeichen dieser Erkenntnis widmet, ist tatsächlich eine Stadt des Glücks.

Ein weiteres Sinnbild der Glückssuche ist die neu gestaltete Grenze zwischen Konstanz und Kreuzlingen: Der Grenzzaun ist im letzten August abgerissen worden, an seine Stelle kommen künstlerische Skulpturen mit Motiven aus dem Tarot, jenem uralten Kartenspiel, mit dem Menschen seit je her Glück und Unglück zu ergründen versuchten.

Und wieder staunt der Besucher: Diese Stadt räumt nicht nur einen Grenzzaun weg, sie sprengt auch noch gleich die Grenzen in den Köpfen.

Der Kunstzaun an der Grenze zwischen unseren Ländern weist uns auf eine wesentliche Voraussetzung für das Glück hin: Glück entsteht nicht in der Isolation, sondern im Austausch. Wer bei aller Unterschiedlichkeit das Gemeinsame pflegt, schafft ideale Voraussetzungen für das Glück.

Eine Stadt, die ihre Besucher mit dieser Botschaft empfängt, ist tatsächlich eine Stadt des Glücks. Deswegen belasse ich es bei der simplen Feststellung eines Sachverhaltes:

"Wer hier lebt, hat wirklich Glück!"