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Die Wiederkehr des Religiösen in die Politik


30.8. -5. Internationalen Kongress der Europäischen Gesellschaft für katholische Theologie zum Thema "Gespenster der Angst in Europa - Provokation der Theologie"

Sie widmen Ihren Kongress Gespenstern. Und so haben Sie mich eingeladen, einen Protestanten und einen Politiker. Das ist gewiss kein Zufall, weswegen ich mir erlaube, mit diesen zwei Eigenschaften in die Gespensterrede zu steigen.

Von kindlicher Unschuld...

Ich bin in einem protestantischen Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater war Deutsch- und Religionslehrer, später Studentenseelsorger und dann Theologe. An unserem Mittagstisch waren regelmässig Theologen zu Gast. Obwohl sie alle sehr viel redeten, merkten wir Kinder, die wir nicht reden durften, nie einen Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten – ausser beim Weintrinken: Die katholischen Priester sagten freudig „Ja“, wenn es um ein weiteres Glas ging, während die reformierten Pfarrer „Nein“ sagten, sich dann umständlich entschuldigten und schliesslich dennoch tranken, aber mit schlechtem Gewissen.

Als wir später französisch lernten, mussten wir auf den Unterschied zwischen curé und pasteur achten. Das führte zu Verwirrungen, als die Migros einen Käse verkaufte, der curé hiess. Die Verpackung zeigte einen Mönch mit dem Text „curé pasteurisé“. Es war bezeichnend, dass dieser ökumenische Käse in unserem Elternhaus besonders gerne verspeist wurde, denn unsere Erziehung war dermassen liberal – allerdings leider nur was das Verhältnis der Religionen untereinander betraf und weniger unsere Lebensführung – , dass ich später, auch noch als Politiker,  mehrmals in Fettnäpfchen trat, weil ich gewisse Unterschiede nicht kannte.

So liess ich mir bei einem katholischen Gottesdienst, an welchen ich als zuständiger Regierungsrat ging, von Weihbischof Henrici eine Hostie geben, was ihn etwa so irritierte, wie jenen Kellner in Jerusalem, bei welchem Henry Kissinger Speck zum Frühstück bestellte. Aber im Gegensatz zu diesem verweigerte mir Herr Henrici nichts, sondern überreichte mir die Hostie.

Es gab allerdings schwerwiegendere Ignoranzen: So realisierte ich erst sehr spät,  dass es Antisemitismus gibt. Wir wurden in Schule und Elternhaus darauf nicht vorbereitet. Die Juden hatten für uns Kinder einfach nochmals eine etwas andere Religion, im Verhältnis zum Christentum etwa wie der Unterschied zwischen Positiven und Liberalen, ein im protestantischen Milieu von Basel damals furchtbar wichtigen Richtungsstreit.

.... zu politischer Verantwortung

Was für Kinder gut ist, ist für Politiker schlecht. Es ist ein politischer Fehler, religiöse Spannungen zu übersehen.

  • Im Kanton Zürich scheiterte im letzten Jahr eine Vorlage zur Anerkennung anderer Religionsgemeinschaften. Vielleicht sind da Sorgen und Ängste übersehen worden.
  • Die Totalrevision der Bundesverfassung wurde auch wegen religiöser Fragen von Volk und Ständen 1999 nur überraschend knapp angenommen. Da sind religiöse Empfindlichkeiten unterschätzt worden

Wer wohlmeinend an das Gute und die Toleranz glaubt und religiöse Spannungen nicht wahrhaben will, handelt fahrlässig und damit politisch verantwortungslos. Denn Intoleranz bedroht das friedliche Zusammenleben im Staat.

Die Wiederkehr des Religiösen….

Solche politischen Fehleinschätzungen gründen wohl im Irrtum, Auseinandersetzungen um Glaubens- und Religionsfragen gebe es nur noch am Rande. Es wird übersehen, dass sie seit einigen Jahren zunehmen.

  • Im amerikanischen Wahlkampf übertrumpfen sich die Kandidaten mit religiösen Bekenntnissen. Es entstehen auch in liberalen Städten Gebetsgruppen, sogar auf dem Harvard-Campus wird heute regelmässig gemeinsam gebetet. 70 Prozent der Amerikaner fordern in Umfragen “mehr Religion in der Politik“.
  • Auf dem europäischen Kontinent erlebten wir die Balkankriege. Es waren auch Religionskriege, sie verliefen entlang jahrhundertealter religiöser Bruchlinien: zwischen Katholiken, Orthodoxen und Muslimen. Zwar gab es religiöse Führer, die zum Frieden mahnten, zahlreicher waren aber jene, die Öl ins Feuer gossen.
  • Selbst bei uns werden religiöse Energien sicht- und fühlbar, die man in den Landeskirchen längst nicht mehr vermutet hat. Freikirchen und religiöse Bewegungen haben grossen Zulauf. Im vergangenen Juni sind mehrere zehntausend Menschen – ganz besonders viele Jugendliche - zu christlichen Grossanlässen zusammengeströmt: zum Christustag in Basel und zum Jugendtreffen mit dem Papst in Bern.
  • In Zürich wollte die  Erziehungsdirektion den Bibelunterricht abschaffen. Sofort wurden Unterschriftensammlungen dagegen lanciert.
  • In einem Vorgarten in Gerlafingen stellte der Besitzer ein haushohes Kreuz auf – die Auseinandersetzung darum führte bis vor Bundesgericht.
  • Soeben hat die Kommission des Ständerates beschlossen, in Radio und TV dürfe keine religiöse Werbung stattfinden.
  • Zu einer Flut von Protestbriefen führte ein Satz, den ich im vergangenen Juni bei der Heinrich Bullinger-Feier sagte, nämlich: seine Kirche habe sich nicht mit Ablassen fürs Jenseits begnügt, sondern sich in den Alltag eingemischt. Der Satz wurde als Angriff auf die Katholiken empfunden.

…und ihre Gründe

Die Wiederkehr des Religiösen hat mehrere Gründe. Gerade weil sich unsere Gesellschaft immer weiter säkularisiert, werden religiöse Vergewisserungen wichtiger. Wo es um Fragen unserer Identität geht, wo Krisen bewältigt werden müssen, wo Menschen Orientierung suchen und einen Sinn für ihr Leben finden möchten, da gewinnt Spiritualität zunehmend an Bedeutung. Die Säkularisierung der Gesellschaft und die Wiederkehr des Religiösen sind zwei Seiten ein- und derselben Medaille.

Aber es gibt auch die Angst, das Thema Ihres Kongresses.

„Die Religionen sind wie die Glühwürmer, sie bedürfen der Dunkelheit um zu leuchten.“ So hat es Schopenhauer formuliert. Der Volksmund ist gnädiger: „Not lehrt beten.“ Wenn Glaubensfragen wichtiger werden, kann das tatsächlich auch Ausdruck von Not, von Dunkelheit und „Angst“ sein.

Angst gibt es als eine Reaktion auf echte oder vermeintliche Gefahren, denen sich Menschen hilflos ausgeliefert fühlen: Globalisierung, Arbeitslosigkeit, Klimakatastrophen, Terrorismus. Angst haben wir vor dem, was wir nicht kennen und als fremd bezeichnen und empfinden. Für viele ist schon die Begegnung mit Menschen anderer Kulturen eine Quelle von Angst. Diese Angst kann sich auf völlig andere Bereiche übertragen: Gegen die UNO, gegen die Einbürgerung von jungen und integrierten Ausländern oder für die unveränderte Erhaltung des Poststellennetzes.

Bedrohungen erkennen

Das kann uns nicht gleichgültig sein. Wir sind, wie Sie es in Ihrem Kongressthema formulieren, gefordert. Die Herausforderung an Theologie und Politik ist nicht dieselbe. Eine erste Aufgabe trifft uns allerdings beide, nämlich eine Bedrohung nicht zu verdrängen, sondern wachsam wahrzunehmen.

Als Bedrohung wird heute von Vielen der Islamismus empfunden. Sie warnen vor falsch verstandener Toleranz. Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter spricht von einer in Europa verbreitete Gutgläubigkeit auch gegenüber radikalen Strömungen im Islam und erinnert an das Schicksal der in Deutschland verfolgten Juden: „Juden waren seinerzeit nicht in der Lage, das Unerträgliche zu denken und das Böse zu erkennen. Sie liessen sich abtransportieren.“ De Winter zitiert Islamisten, welche die Gläubigen dazu aufrufen, Ungläubige zu vernichten. Es sei beängstigend, dass wir, hier im freien Westen, uns nicht über die Art dieser Gefahr einig seien.

Es stimmt: Wir müssen das Gewaltpotential sehen, das von Religionen ausgeht, sei es direkt, indem religiöse Führer zur Gewalt aufrufen, sei es indirekt, indem aggressive politische Bewegungen sich auf religiöse Bekenntnisse und Symbole abstützen und sie für ihre Zwecke instrumentalisieren. Eine solche Bedrohung sind auch Theorien, die den Clash der Zivilisationen und damit den Krieg der Religionen als Naturgesetz darstellen.

Die Instrumentalisierung der Religion wird zwar auch von Religionsführern beklagt, vor allem im Nachhinein. Die gleichen Leute distanzieren sich in einem aktuellen Konflikt allzu selten offen und klar davon. Wir haben das auf dem Balkan erlebt. Wenn alle Religionen sich konsequent von jeder Gewalt im Namen ihres Gottes distanzierten, hätten Kriegshetzer und Terroristen weniger leichtes Spiel.

Beide, Politik und Theologie müssen Bedrohungen und Spannungen erkennen. Ihre Antworten sind jedoch verschieden.

Die Aufgaben des Staates:

Schutz vor physischer Bedrohung

Die Sektendramen der Neunzigerjahre haben uns gezeigt, dass religiöse Sekten nicht nur die psychische Unabhängigkeit von Menschen gefährden können, sondern auch ihr Leben.

Der Staat hat seine Bürger primär vor physischer Bedrohung zu beschützen, entstehe diese nun innerhalb oder ausserhalb des Landes. Das kann und muss auch durch Gewalt erfolgen. Dazu hat ja der Staat auch das Gewaltmonopol.

Doch dies genügt nicht. Die Politik ist auch zur Ursachenbekämpfung und Prävention berufen.

Zur Bekämpfung von Gewalt im Innern eines Landes gehören ja auch nicht nur Strafe und Gefängnis, also nicht nur Repression und Abschreckung, sondern auch die Erforschung, warum Verbrechen entstehen und wie sie vermieden werden können. Dazu gehört klassischerweise die Vermeidung von krassen sozialen Ungleichheiten und Armut. Diese Erkenntnis hat auch zum heutigen Sozialstaat geführt. 

Fundamentalismus und soziale Ungleichheit

Entsprechend müssen wir auch für die Welt denken.

Ein Hintergrund des religiös motivierten Fundamentalismus ist ohne Zweifel auch die soziale Frage. Im Irak zum Beispiel liegt die Arbeitslosigkeit bei 54 Prozent, das Bruttoinlandprodukt ist halb so gross wie jenes der Malediven, 60 Prozent der Iraker und Irakerinnen können nicht lesen und schreiben. Wie sollen sie also fundamentalistischen Hetzern und ideologischen Vereinnahmungen widerstehen können?

Ich weiss: Den religiös motivierten oder überdeckten Fundamentalismus stellen wir im Irak vor allem nach dem Krieg fest! Und der Zusammenhang von Fundamentalismus und Armut ist nur ein Faden in einem dichten Gewebe von Ursachen und Wirkung. Fundamentalismus findet sich auch in begüterten und gebildeten Schichten.

Populismus und Fundamentalismus

Dennoch: So, wie sich bei uns Populismus als eine Verbindung zwischen Verführern und Verführten zeigt, von einem Bedrohungsmythos lebt, also mit der Angst spielt und mit süffigen Thesen einfache Lösungen predigt, so kann religiöser Fundamentalismus nur auf einem bestimmten Hintergrund gedeihen. Wo eine Politik des sozialen Ausgleichs versagt, öffnet sich ein Vakuum für die Religion. Das erklärt ein Stück weit den Zulauf zu religiösen Bewegungen.

Deswegen ist es – trotz nicht immer eindeutigen Zusammenhängen – Aufgabe der Staatengemeinschaft, für sozialen Ausgleich auf dem ganzen Globus zu sorgen und in der supranationalen Zusammenarbeit – wie in der Weltbank, bei der WTO oder beim IWF – die soziale Nachhaltigkeit zu unterstützen. Eine globale Sozialpolitik der Staatengemeinschaft ist Prävention gegenüber fundamentalistischen Strömungen, auch wenn sie nicht die einzige sein kann.

Der Religionsfriede

Eine zweite, vorwiegend innenpolitische Aufgabe ist der Religionsfriede.

Die Religionsfreiheit kann den Religionsfrieden im Inneren eines Staates garantieren. Nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, auch jede Konfession und Religion ist darauf angewiesen. Darum ist die Religionsfreiheit garantiert und deswegen gibt es den Verfassungsauftrag von Art. 72. Abs. 2 BV. „Bund und Kantone können im Rahmen ihrer Zuständigkeit Massnahmen treffen zur Wahrung des öffentlichen Friedens zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften.“

Dieser Artikel gewinnt heute wieder an Aktualität. Allerdings gibt es keinen Bundesrat für Religionsfragen. Wie die Kultur sind diese in erster Linie Sache der Kantone.

Verschiedene Kantone bemühen sich, ihr Verhältnis zu nichtchristlichen Religionsgemeinschaften neu zu regeln mit dem Zweck, diese zu integrieren und auf diese Weise das Miteinander aller Bürger friedlich zu gestalten. Die öffentlich-rechtliche Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften kann ein Instrument zur gesellschaftlichen Integration sein.

Diese Anerkennung beinhaltet zugleich, dass alle Religionsgemeinschaften ihrerseits einen religiösen Pluralismus anerkennen und darauf verzichten, ihre Wahrheit als einzig richtige durchsetzen zu wollen. Der Staat darf weder einen solchen Wahrheitsanspruch mit seinen Mitteln unterstützen noch darf er es zulassen, dass eine Religionsgemeinschaft ihren alleinigen Anspruch durchsetzen kann. Nur so können Frieden und Freiheit im Innern garantiert werden.

Deswegen definiert sich die Schweiz auch nicht als ein christlicher Staat – auch wenn sie auf Werten der abendländischen Kultur aufbaut.

Exkurs: Kopftuchverbot und Religionsfriede

An einem Beispiel hat sich europaweit die Frage um Religion, Integration, Bedrohung, Toleranz und um die Rolle des Staates entzündet: am Kopftuchverbot.

Es ist eine Diskussion, die nicht mit einer alles umfassenden Stellungnahme beendet werden kann. Und auch nicht soll, denn diese Diskussion gehört ja gerade zu einer offenen Gesellschaft, welche religiöse Fragen und die politischen Antworten dazu diskutiert - und umgekehrt, die politischen Fragen und  die religiösen Antworten dazu.

Eine sehr populäre und spontane Begründung für ein Schleierverbot, welche ich immer wieder höre: „Wir Westeuropäer müssen uns in islamischen Ländern, z. Bsp. im Iran auch den dortigen Vorschriften unterwerfen. Unsere Frauen tragen dort Kopftücher. Wieso dürfen wir dann hier nicht auch Vorschriften erlassen?“

Wir sind eben kein Gottesstaat. Es ist eine Errungenschaft unseres Staates, die Religionsfreiheit zu garantieren.

Die Religionsfreiheit kann mit anderen Freiheiten kollidieren, zum Beispiel mit den Menschenrechten oder mit dem Religionsfrieden innerhalb unseres Staates und mit dessen Integrationsbemühungen. Dann sind die verschiedenen Güter gegen einander abzuwägen.

  • Die Freiheit der Frau
    Da ist zunächst die Frage, ob Frauen ein Kopftuch freiwillig tragen oder ob sie vom Vater oder Ehemann dazu gedrängt werden. Zwang ist gewiss häufig vorhanden, doch nicht immer. Das Kopftuch wird auch mit dem Willen getragen, die Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder eben die eigene religiöse Überzeugung zu unterstreichen, so wie dies bei der Kippah oder der Haube einer Nonne auch der Fall ist.
    Gegen das unfreiwillige Kopftuch gibt es andere und direktere Mittel, um die Rechte der Frauen und Mädchen zu schützen, als allen den Schleier zu verbieten.
  • Das Symbol des Schleiers
    Eine andere Begründung für das Verbot ist der Religionsfriede: Der Schleier stehe für den Islam, der Islam sei aggressiv und intolerant und er habe terroristische Exponenten. Daran erinnere der Schleier, er sei eine Provokation, wecke Aggressionen und gefährde den Religionsfrieden.
    Das Schleierverbot ist und bleibt ein symbolischer Akt, mit welchem die hinter dem Schleier vermutete Haltung angepeilt wird. Ob sie tatsächlich vorhanden ist, wird nicht abgeklärt. Derartige symbolische Verbote gibt es in der Politik immer wieder: Das Schächtverbot ist nicht eine Massnahme des Tierschutzes, sondern eine Einschränkung der Religionsfreiheit.
    Nun arbeitet die Politik immer mit Symbolen und Ritualen. Es gibt zahlreiche symbolische Handlungen der Politik, die eine innere Haltung, eine Solidarität, ein Missfallen zum Ausdruck bringen wollen, ohne konkret etwas zu bewirken, die Präsenz eines Ministers am Unfallort zum Beispiel.
  • Bewirkt das Verbot, was wir wollen?
    Die politische Frage beim Kopftuchverbot ist dann aber, ob diese symbolische Handlung, nämlich das Verbot, den gewünschten Effekt auch tatsächlich erziele. Gerade weil mit dem Verbot unter Umständen die Religionsfreiheit verletzt wird, kann es gerade das Gegenteil bewirken, nämlich eine verstärkte Identifikation und Verankerung der Musliminnen in ihrer Religion. Dies wiederum kann für deren Isolation und Integration hinderlich sein.
  • Religionsfriede durch Schleierverbot?
    Zur Integration, also zum Religionsfrieden gehört der Beitrag aller, also auch der Mehrheit, sich mit einer neuen Religion, mit einer Minderheit, auseinander zu setzen und sich dabei nicht von pauschalen Verkürzungen, wie „Kopftuch = Islam = Terror“, verführen zu lassen. Es geht ja nicht nur um religiöse Gefühle, sondern auch um politische, nämlich um Fremdenangst, um die Angst vor Globalisierung und vor politischem Fundamentalismus, um die Angst, unseren Wohlstand zu verlieren.
    Hinter der Forderung nach einem Schleierverbot versteckt sich oft eine Weigerung, sich auf die vertiefte Auseinandersetzung mit all diesen Fragen einzulassen.

Religiöse Spannung und deren Diskurs

Diese Auseinandersetzungen müssen aber geführt werden und zwischen Aufklärern und Katholiken sind sie in unserem Lande geführt worden, als da noch andere Spannungen herrschten:

Man findet sie auch in den Annalen dieser Universität: Vor knapp 150 Jahren (im Jahr 1862), als die katholische Schweiz noch unter dem Trauma des verlorenen Sonderbunds-Bürgerkriegs litt, schrieb ein gewisser Nazar von Reding-Biberegg in der „Schwyzer Zeitung“, dass in Zürich „fanatischer Katholikenhass alle Verhältnisse durchdringt“. Die dortige Universität sei ein „Pandämonium von Atheism, Pantheism, Materialism und Nihilism!“  Deshalb brauche man eine eigene, eben katholische Universität.

Umgekehrt malten 1886 die freisinnigen „Basler Nachrichten“ wegen der beabsichtigten Universitätsgründung das Gespenst des Jesuitismus an die Wand. Der Zürcher Pfarrer Johann Kaspar Lavater polemisierte schon früher: “Wo wahrer Katholizismus herrscht, da kann wahre Aufklärung nie herrschend werden.“


Heute gehören solche Auseinandersetzungen selbstverständlich vollumfänglich und definitiv der Vergangenheit an. Sonst hätten Sie ja nicht den protestantischen Infrastrukturminister eingeladen, über Gespenster zu reden.

Verflechtung von Kirche und Staat

Die Verflechtung von Staat und Christentum ist bei uns nicht nur eine institutionelle, sondern auch eine kulturelle Tatsache. Es gibt kein christliches oder kirchliches Problem, das in veränderter Form nicht auch im Staat und in der Politik auftaucht und umgekehrt.
Deswegen werden immer wieder Auseinanderssetzungen darüber geführt, ob und wie diese Grundlagen in der Verfassung erwähnt werden sollen:

  • Das Schweizer Parlament hat sich bei der Verfassungsrevision nach langen Debatten für die Präambel „Im Namen Gottes des Allmächtigen –Au nom de Dieu Tout-Puissant!“ entschieden. Es stand zunächst ein sehr knapper Text zur Diskussion: „Im Namen Gottes!“ Er war eigentlich bereits beschlossen, als man entdeckte: Auf Französisch hiesse das ja „Nom de Dieu“ und so hätte unsere Verfassung beinah mit einem Fluch begonnen…
  • In der EU wurde um die Präambel der Verfassung ebenfalls leidenschaftlich gestritten. Die Kirchenführer drängten die Politiker, einen Bezug auf Gott und das Christentum aufzunehmen. Diese taten es schliesslich nicht und beschlossen am 18. Juni 2004 die säkulare Formel: "Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas…“

Das ist nicht purer Laizismus. Die Zurückhaltung der Europäer ist ein Echo jener Angst, die herrührt von den Kreuzzügen, von der Inquisition und vom Hexenwahn, vom Dreissigjährigen Krieg und von den Hugenottenverfolgungen, vom Holocaust und von religiös etikettierten Bürgerkriegen in Nordirland und Südosteuropa. All diese blutigen Konflikte sind im Gedächtnis Europas noch so präsent, dass es Angst hat vor einem Gespenst, welches zu Scheusslichkeiten dieser Art auch in Zukunft wieder anstiften und sich dabei sogar auf Europas Verfassung berufen könnte.

Gegenseitige Abhängigkeit von Kirche und Staat

Aber die entscheidenden Fragen stellen sich nicht bei den abstrakten Grundsatzbekenntnissen in Präambeln, sondern bei den konkreten täglichen Entscheiden.

Ohne Moral und Akzeptanz der Bürger würden Gesetze nicht eingehalten. Kein liberaler Staat könnte auf Dauer die nötigen Mittel für Polizei und Justiz aufbringen, wenn seine Bürgerinnen und Bürger die Gesetze nicht grundsätzlich bejahen würden (selbst wenn sie sie nicht immer einhalten). Der Staat kann keine Ethik verordnen. Er braucht ein Fundament, das tiefer liegt, und ein Ziel, das weiter reicht als das, was Gesetz, Gerichte und Polizei garantieren können.

Der Staat lebt also von Voraussetzungen, die er allein nicht garantieren kann, ohne dabei das Fundament der Freiheit in Frage zu stellen. Das ist das Risiko, das er um der Freiheit willen eingegangen ist.

Für die Religionen gilt die gleiche Beschränktheit wie für den Staat, denn auch sie können ihre Religionsfreiheit allein nicht garantieren. Sie sind auf den staatlichen Schutz angewiesen.

Die Ressourcen, die eine freiheitliche Ordnung tragen und von denen der Staat lebt, müssen von uns allen gelegt werden. Denn jeder Mensch ist ja nicht nur Bürger oder Politiker, sondern er ist auch Träger unserer Kultur, zum Beispiel Mitglied einer Kirche oder Religionsgemeinschaft – auch das gehört zur Verflechtung von Staat und Christentum.

Eine sterile Abgrenzung und ein isoliertes Nebeneinander sind eine Fiktion, die der Verflechtung von Religion, Gesellschaft und Staat nicht genügen.

Die Rolle der Religionen und der Kirchen

Der Staat ist auf die Wertediskussion der Gesellschaft angewiesen, und darin haben die Kirchen und Religionen eine wichtige Stimme und auch ein emotionales Gewicht. Sie können die Impulse in den geistigen und politischen Prozess der Gegenwart hinein geben – ob das nun die Zehn Gebote der jüdischen und christlichen Bibel sind, der Achtfache Pfad des Buddhismus oder die Fünf Säulen des Korans.

Nicht am Andern, am Andersartigen lässt sich unsere Freiheit verwirklichen und durchsetzen, sondern nur am Eigenen. Wenn wir Sicherheit vor Bedrohung wollen, so müssen sich unsere Fragen und Bemühungen darüber an unser eigenes Verhältnis zur Religion, zu unseren Werten richten.

Dies ist jedoch nur möglich, wenn der Pluralismus innerhalb der eigenen Reihen nicht gefürchtet wird. Verbote und Sanktionen gegenüber Gläubigen, welche die Ökumene vermeintlich zu weit treiben und das Mahl der Christen gemeinsam feiern wollen, zeugen letztlich doch auch von Angst. Und sie verkennen die Errungenschaften der Ökumene.

Ökumene als Stärke

Der grösste Motivationsschub für die Ökumene kam aus den Schützengräben des zweiten Weltkriegs: Die gemeinsamen Erfahrungen von Leid und Schrecken und die darin geübte Solidarität wurde wichtiger als alle konfessionellen Spaltungen. Später, während des kalten Kriegs, kam es zu weiteren ökumenischen Fortschritten, vor allem im Zusammenhang mit dem Konzil 1962-65, und dank der systemübergreifenden Allianz der christlichen Kirchen in Genf.


Das geschah auch angesichts eines Gespenstes. Erinnern Sie sich an den berühmten Satz: „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet!“ So liess sich das Kommunistische Manifest 1848 verlauten.

In der ersten Hälfte der Sechzigerjahre stand das Zweite Vatikanische Konzil noch stark im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. In einem seiner wichtigsten Dokumente stellte die katholische Kirche ihr Verhältnis zur modernen Welt dar. Die Konzilsväter stellten das Dokument zunächst unter den Titel „Luctus et angor – Trauer und Angst“. Doch bald entdeckten sie, dass man damit keine Gespenster verscheuchen oder ihrer Herr werden kann. So benannten sie die Pastoralkonstitution um und tauften sie auf die Worte: „Gaudium et spes – Freude und Hoffnung“. Und einer der schönsten Sätze heisst: „Das künftige Schicksal der Menschheit ruht in den Händen derer, die es verstehen, den Generationen von morgen Gründe zu geben, um zu leben und zu hoffen."

Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus war nicht bloss das Versagen eines wirtschaftlichen und politischen Systems, er war die Folge einer geistigen Leere, einer Orientierungslosigkeit, die sich mit den Werten von Freiheit und Verantwortung nicht mehr zu messen vermochten.

Es sind heute unsere geistigen Werte, geschaffen von religiösen und aufgeklärten Menschen zugleich, die unsere Freiheit gegenüber blindem und fanatischem Fundamentalismus langfristig garantieren können.

Wenn heute bei den Errungenschaften der Ökumene zurückbuchstabiert wird, zeugt das von Angst. Doch Angst verleiht den Generationen von morgen kaum Gründe zur Hoffnung. Angst beengt und ist ein schlechter Ratgeber. Ich habe den soeben erfolgten Aufruf des Zürcher Kirchenrates zur unbeirrten Weiterführung der Ökumene cum gaudio et spe gelesen.

Toleranz und Freiheit messen sich daran, wie offen sie mit ihren Ängsten umgehen. Das macht ihre Widerstandskraft gegenüber Gespenstern aus.

Ich erzähle Ihnen deshalb gerne, was sich kürzlich im Bundeshaus zugetragen hat:

Das Gespenst im Bundeshaus

An der Loge des Bundeshauses liegt eine kleine Broschüre mit den Fotografien der Mitglieder des Parlamentes und des Bundesrates, damit die Türkontrolleure wissen, mit wem sie freundlich sein sollen und mit wem nicht.

Eines Morgens lag diese Broschüre vollständig zerrissen in einer Ecke der Eingangshalle. Man dachte an einen Frustrationsakt eines Beamten oder eines Journalisten und ersetzte das Büchlein. Doch am nächsten Morgen lag auch dieser Ersatz zerfetzt in einer anderen Ecke. Der Sicherheitsdienst wurde engagiert, doch er wurde nicht fündig, auch am Tag darauf lag das Exemplar zerstört am Boden. Der Schweizerische Bundesanwalt selber wurde eingeschaltet. Angesichts der sehr schwierigen Aufgabe verlangte er zunächst Bodyguards und Nachtzulagen. Doch auch diese halfen nichts. Wieder lag die Broschüre zerknittert in einer weiteren Ecke des Bundeshauses. Der Finanzminister wurde wegen der vielen zerstörten Broschüren und wegen der Nachtzulagen für den Bundesanwalt nervös und konsultierte den Doyen der ausländischen Botschafter in der Schweiz. Dies war der päpstliche Nuntius, welcher bekannt war für seine wunderschönen Gesänge, die er anlässlich aller wichtigen Empfänge im Bundeshaus auf vielfaches Begehren preisgab. Der

Nuntius tappte also nachts durch das Bundeshaus und begann einer seiner wunderbaren Gesänge, ein Ave Maria.

Da löste sich hinter den drei Eidgenossen, welche am Eingang des Bundeshauses standen, und ihre Schwurfinger zum ewigen Rütlischwur gegen den Himmel reckten, ein kleines Gespenst, das von der wunderschönen Stimme des Nuntius tief ergriffen war. Kaum hatte aber der Nuntius seien Gesang beendet, rannte das Gespenst stracks zur Broschüre und wollte diese zerfetzen. Der Nuntius fragte, (der Nuntius sprach lateinisch, italienisch und französisch): „Mais mon enfant, qu’est-ce que tu fais?“ Und er begann ein liebevolles Gespräch. Das Gespenstlein konnte sich so langsam aus seiner starren und zerstörerischen Haltung lösen und klagte:

„Während Jahren war ich im Gespensterhaus an der Junkerngasse in Bern. Die ganze Welt hat sich um mich gekümmert. Studien wurden gemacht, Experten übernachteten im Haus. Ich war jemand. Doch dann hat man das Haus umgebaut und ich zog unter den Bundeshausplatz. Polizisten verteilten Parkbussen und es gab regelmässig Demonstrationen. Das galt eigentlich alles mir. Man hat sich um mich gekümmert. Doch dann wurde auch dieser Platz ausgehöhlt. So kam ich in Bundeshaus. Aber alle gehen mir aus dem Weg, niemand will mit mir sprechen: die Parlamentarier nicht, der Bundesrat nicht, die Helvetia nicht, ja nicht einmal die drei Eidgenossen.“

Da mitten in der Nacht nur gerade die drei Eidgenossen präsent waren, fragte sie der Nuntius mit sehr strenger Stimme: „Ist das wahr?“ Die drei Eidgenossen erschraken, denn den Nuntius hatten sie bis jetzt immer nur singen, aber noch nie so bestimmt reden gehört. Sie stammelten in der ersten Verwirrung wild durcheinander:

Der erste, ein gottesfürchtiger Mann, stammelte:“ Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geiste.“ Der zweite, ein aufgeklärter Mann, sprach mit fester Stimme: „Egalité. Liberté, Fraternité!“ der andere, ein Mann der Nachhaltigkeit rief ganz entsetzt: „Im Namen der Wirtschaftlichkeit, der Sozialverträglichkeit und des Umweltschutzes!“

Bestürzt schauten sie sich an: Jeder hatte einen anderen Schwur geschworen. Sie liessen ihre Schwurfinger und Schwurhände vor Schreck zu Boden sinken, so dass sie geradewegs auf das Gespenstlein zeigten. Darob versteinerten sie sich auf der Stelle. Seither stehen sie am Eingang des Bundeshauses und halten ihre Schwurhände zu Boden gesenkt statt erhoben.

Doch das Gespenstlein war so zufrieden, dass die Eidgenossen ihm je einen Schwur widmeten, dass es friedlich schlafen ging. Es ward nie mehr gesehen.

Toleranz bewährt sich nur, wenn sie strapaziert werden darf. Diese Strapaze haben Sie, meine Damen und Herren, auf sich genommen: Sie haben einen protestantischen Politiker als Redner eingeladen, und Sie haben ihm sogar zugehört. Ich danke Ihnen.