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Wir sind nicht China (zu Corona)


Interview im Tagesanzeiger vom 28.20.2020

 

 

Herr Leuenberger, finden Sie diese Warterei gerade auch etwas merkwürdig?

Welche Warterei?

 

Schon letzte Woche schossen die Fallzahlen in die Höhe – und doch informiert der Bundesrat erst am Mittwoch über die neuen Corona-Massnahmen. Ist dieses zögerliche Vorgehen für Sie nachvollziehbar?

Ich verstehe, dass es Zeit braucht. Wem es zu langsam geht, kann ja eigenverantwortlich handeln. Erstens könnten die Kantone schon lange Massnahmen beschliessen. Zweitens ist jeder und jede über die steigenden Fallzahlen im Bild. Wer jetzt einfach noch die totale Freiheit auslebt, bis neue Befehle aus Bern kommen, hat nicht verstanden, dass er in unserer Demokratie selber eine aktive Aufgabe hat. 

 

Sie machten sich 2001 als «Krisen-Päsident» einen Namen: im Jahr des Amoklaufs in Zug, der Anschläge vom 11. September, des Swissair-Groundings, des Grossbrands im Gotthardtunnel. Inwiefern sind diese Ereignisse mit der heutigen Krise vergleichbar?

Überhaupt nicht. Damals musste ich kommunikativ auf fürchterliche Ereignisse reagieren, auf Katastrophen und Verbrechen. Die moralische Betroffenheit stand im Vordergrund. Heute haben wir es mit einer Epidemie zu tun, die unser Gesundheitswesen an seine Grenzen bringt und die ein aktives Eingreifen erfordert. Wir sollten aber aufpassen, die Möglichkeiten der politischen Behörden nicht zu überschätzen.

 

Wie meinen Sie das?

Es geht um eine weltweite Epidemie mit erhöhter Sterblichkeit und dauernden Gesundheitsschäden. Der Bundesrat kann die Epidemie nicht einfach wegblasen! Der Anspruch, dass wir nun bitteschön wieder subito die alte Normalität zurückhaben wollen, hat etwas Infantiles. Die Regierung darf sich auch nicht in diese Rolle drängen lassen, sondern muss zu ihren Grenzen stehen. Wenn sie in einer Frage nichts ausrichten kann oder vor einem Dilemma steht, muss sie das offenlegen. Sonst flüchtet sie in moralische Beschwörungen, die die Bevölkerung erst recht ratlos zurücklassen.

 

In der Maskenfrage versäumte es der Bundesrat zu Beginn, transparent zu informieren.

Ja, dort hätte die ehrliche Botschaft gelautet: Wir haben zu wenig Masken, deshalb können wir noch keine generelle Maskenpflicht beschliessen. Dass sogar Virologen und Epidemiologen stattdessen behaupteten, Masken nützten nichts, beschädigte ihre Glaubwürdigkeit.

 

Die Krise dauert nun schon rund acht Monate an. Auf den Bundesräten lastet eine enorme Verantwortung. Was macht das menschlich mit einem?

Der Druck ist immens. Aber eine solche Krisensituation beflügelt auch: Regierungsmitglieder wollen und müssen bestmögliche Lösungen finden, sie identifizieren sich zu 100 Prozent mit dieser Aufgabe.

 

Auch innerhalb des Bundesrats gehen die Meinungen, wie man die Krise bekämpfen muss, weit auseinander. Wie laufen solche Debatten ab?

Jedes Mitglied identifiziert sich zunächst mit der Aufgabe seines Departements. Wenn diese Aufgabe die Analyse der Bedrohungslage ist, denkt die Vorsteherin zunächst vielleicht anders als der Kassenwart, dem es um die Finanzen geht. Dazu kommt auch die parteipolitische oder regionale Herkunft. Und das ist richtig so! Genau deswegen sind im Bundesrat ja alle grossen politischen Kräfte, aber auch alle Regionen vertreten. Schon vor der entscheidenden Sitzung wird versucht, die Gegensätze zu überwinden und Vieles wird vorweg bereinigt. Die letzten Differenzen werden dann in der Sitzung entschieden. Wichtig ist dann, dass nach der Sitzung der Entscheid von allen getragen wird. 

 

In der Bevölkerung gibt es eine Bewegung, die sich gegen jegliche Einschränkungen wehrt oder die Existenz des Virus gar leugnet. Wie kann und soll man mit diesen Corona-Skeptikern diskutieren?

Das Gefährlichste an den Corona-Leugnern ist, dass sie ihre Theorien heute sehr effektiv weiterverbreiten können. Bundesrat und Wissenschaftler müssen Behauptungen, die falsch sind, rational begegnen, zum Beispiel, eine Ansteckung bewirke eine immerwährende Immunität. Auf keinen Fall dürfen sie sich selber auf einen Beschimpfungs- und Glaubenskrieg einlassen. 

 

Tatsache ist: Manche Massnahmen, die derzeit diskutiert werden, greifen tief in unsere Privatsphäre ein. Unsere Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt, Hobbys werden uns verboten. Ist Ihnen dabei nicht auch manchmal unwohl?

Ja, die individuelle Freiheit wird eingeschränkt. Aber das geschieht zum Wohle der Allgemeinheit, also auch derjenigen, die mit den Beschränkungen nicht einverstanden sind.  Dieselben Diskussionen hatten wir bei der Gurtenpflicht oder der Promille-Grenze am Steuer. Die Freiheit vor der eigenen Nase ist politisch nicht immer das höchste Gut; die Gesundheit der anderen hat zuweilen den höheren Wert. 

 

Zu den Vorschlägen, die aktuell diskutiert werden, zählt eine Sperrstunde für Restaurants nach 22 Uhr oder eine Maskenpflicht im Freien. Muss man davon ausgehen, dass es sich dabei um Maximalforderungen handelt, die noch abgeschwächt werden?

Das glaube ich nicht. Natürlich gleicht die Politik oft einem Teppichhandel. Die Kantone machten solche Vorschläge, um ihre Bevölkerung wirksam schützen hzu können. Und eine Maske zu tragen, ist ja jetzt wirklich nicht so grauenerregend schlimm! Wir müssen die Massnahmen immer an dem Zweck messen, der erreicht werden soll. Aktuell lautet dieser: das Gesundheitswesen aufrechtzuerhalten und die Sterblichkeit zu minimieren.

 

Besteht nicht die Gefahr, dass die Bevölkerung die Massnahme als unverhältnismässig empfindet und sich in der Folge auch um andere Empfehlungen foutiert?

 

Gegen die Mehrheit der Bevölkerung wird der Bundesrat ja gewiss nicht entscheiden. Es ist immer nur ein betroffener Teil der Bevölkerung, der aus seiner Optik die Zusammenhänge nicht begreifen kann. Das ist zwar verständlich, jeder ist sich selbst der Nächste. Aber gerade weil die grosse Mehrheit vom Bundesrat Führung erwartet, wird sie sich an dessen Entscheide ja auch halten.  

 

Sie sind selber über 65 Jahre alt - und gehören damit offiziell zur Risikogruppe. Wie stark schränken Sie sich ein? 

Ich verhalte mich bundesratskonform, obwohl ich mich nicht der Risikogruppe zuordne, nur weil ich über 65 bin. Diese Altersgrenze wurde ja nicht gesundheitspolitisch ermittelt: Aber ohne schematische Entscheide geht es kaum. Immer gibt es Ungerechtigkeiten im Einzelfall, auch bei den Sperrstunden. Das Fine Tuning muss in solchen Fällen eben noch nachgeholt werden und da ist auch Flexibilität der Behörden angesagt.

 

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie gut hat sich der Gesamtbundesrat in der Coronakrise bisher geschlagen?

Ich bin doch nicht der Oberlehrer, der Noten verteilt! Es gibt schon genug Epidemiologen, Virologen, Philosophen, Schriftsteller, die ihre persönliche, aber nicht immer so fundierte Meinung herumposaunen, nur weil man ihren Namen kennt. In diesem Konzert muss ich jetzt nicht auch noch mitsingen. 

 

Auch die Medien wurden für ihre Pandemie-Berichterstattung kritisiert. Wie beurteilen Sie als ehemaliger Medienminister die Leistung der Journalisten im Land?

Ich lese jeden Artikel kritisch. Manches finde ich gut, anderes einen Blödsinn. Aber es gehört zur Eigenverantwortung aller Staatsbürger, Medienbeiträge nicht einfach unverdaut runterzuschlucken, sondern sie kritisch zu reflektieren. Alles in allem bin ich der Meinung, dass eine kontroverse Diskussion stattfindet.

 

Es gibt Optimisten, welche die Krise als Chance begreifen. Sie auch?

Ein etwas platter Optimismus! Wir haben es hier mit einer grossen Katastrophe zu tun, die wir nicht als Chance schönreden sollten. Natürlich: Vielleicht nehmen ja Mobilitätsexzesse oder der Massentourismus ab. Aber wenn es eine Pandemie braucht, um nachhaltige Veränderungen in Gang zu bringen, dann ist das nicht positiv, sondern eher ein Armutszeugnis.