Das Böse, das Gute, die Politik
Moritz Leuenberger - Rede am Symposium des Lucerne Festival zum Thema «Verführung», 6. September 2002
Dank dieser Rede erhielt Moritz Leuenberger den Cicero-Rednerpreis im 2003
Meine Damen und Herren
Sie wissen genau: Das ist geschwindelt. Beim Wort Verführung dachte ich zunächst an etwas Erotisches, das ich jetzt allerdings im Detail nicht preisgeben kann. Es sind ja auch Medien anwesend. Ich schätze allerdings, es gebe auch einige Wenige unter Ihnen, die bei Verführung zunächst an Erotisches denken. Dazu gehören auch die Werber, die das Sujet für die Musikfestwochen in Luzern schufen, den auftauenden Apfel. Gemeint ist offensichtlich der Apfel von Eva und Adam. Dieser hat allerdings mit Erotik gar nicht so viel zu tun, sondern kam ursprünglich vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Eva pflückte ihn verbotenerweise und bot ihn Adam an. Diesem wurde er zu heiss, weshalb er ihn in einer Tiefkühltruhe versorgte. Von dort holten ihn die Werber hervor und druckten ihn auf das Programmheft und die Plakate des Lucerne Festivals. Dort schmilzt er seither dahin und verführt zum Besuch der Musikfestwochen.
Deren Musik verführt ihrerseits. Ihre Saiten sprechen Seiten in uns an, die wir im Alltag zupanzern, wecken Emotionen, die der gebotene Diskurs unserer angeblich rationalen Politik nicht zulässt, regen an zu Phantasien, die das gesittete Leben durcheinander bringen könnten und darum rasch wieder tiefgekühlt werden müssen, wenn der Beifall zum Konzert verklungen ist.
Warum scheuen wir uns eigentlich, dazu zu stehen, dass wir uns gerne verführen lassen?
Führen
Wer für eine Exekutive kandidiert, muss sich seiner Führungsqualitäten rühmen, die er in der Wirtschaft, im Sport oder im Militär erworben hat. Sonst bleibt er chancenlos. Mütter, die in die Politik einsteigen wollen, müssen verzweifelt schildern, wie Kindererziehung und die Führung eines Haushaltes ebenso harte Führungsarbeit sei wie die Leitung eines Artillerieregimentes oder die Betreuung einer erschöpften Fussballmannschaft. Aktive Führung wird verlangt. Sie ist ein positives Markenzeichen. Führungsschwäche dagegen ist wohl einer der furchtbarsten Makel, die sich ein Politiker vorwerfen lassen muss.
Eigentlich ist das merkwürdig in einer Demokratie, und erst recht in einer direkten Demokratie, wo doch das Volk und nicht der Politiker der Souverän ist. Braucht ein Souverän Führer? Das letzte Wort hat doch das Volk, betreffe dies nun den UNO-Beitritt oder die Höhe der Kehrichtgebühren. Die Politiker sollen einen möglichen Weg vorbereiten, Kompromisse suchen an runden Tischen, mit Vernehmlassungen, sie sollen technische Fragen aufarbeiten, den Weg zeigen, der ihrer Meinung nach zu gehen ist. Aber ob dieser Weg dann auch beschritten wird, entscheidet das Volk. Die Führungsarbeit beschränkt sich auf die Rodungsarbeiten, die Zubereitung des Pfades. Führen heisst in der Politik meist nicht in erster Linie entscheiden. Die Entscheidung fällt der Souverän.
Einen Weg suchen heisst allerdings auch, die Richtung bestimmen. „Richtung“ und „richtig“ sind die selben Wörter und das zeigt schon die Gefahr, welche mit „führen“ verbunden ist. Wissen denn diejenigen, die führen, den richtigen Weg? Oder massen sie sich da etwas an?
Dennoch, Führungsarbeit muss geleistet werden. Niemand, der Mühe hätte mit Führung als Prinzip in der Politik.
Verführen
Der Brockhaus definiert die Verführung kurz und bündig als eine kriminelle Tat.
Der Duden ist etwas differenzierter, weist aber dennoch vorwiegend auf ihren pejorativen Gehalt. Sie bestehe darin, jemanden zu etwas Unklugem, Unrechtem oder Unerlaubtem zu bringen.
Der negative Beigeschmack von „verführen“ entspricht anderen Wörtern mit der Vorsilbe „ver“, also sich versprechen, verdrehen, (verkehren sage ich als Verkehrsminister besser nicht, sonst verstimme ich wieder einige...). Es wird damit ein falscher Gebrauch ausgedrückt. Verführen hiesse also schlecht führen, falsch führen.
Wen wundert es da, dass es keinen Politiker gibt, der von sich sagen würde, er wolle und könne seine Wähler und Wählerinnen verführen.
Und dennoch: Es gibt, wie überall, auch in der Politik Verführer und Verführte:
Wie immer bei negativ besetzten Eigenschaften entdecken wir sie zunächst bei den anderen, ich zum Beispiel bei den „Populisten“.
Böse Verführer: Die Populisten
Populismus ist genau gesehen eine Erscheinung der gegenseitigen Verführung: Der Populist lässt sich durch eine Stimmung „im Volke“ verführen, nimmt dessen unartikulierte Wünsche und Verwünschungen auf, formuliert sie zu eigenen Parolen und lässt sich dann tragen von den begeisterten Massen. Er verleiht denjenigen eine Sprache, die ihre Gefühle nicht ausdrücken können, spricht aus, was gefühlt wird, und verführt so seinerseits wiederum „das Volk“, indem er dieses glauben lässt, es gäbe in der Tat einfache Lösungen für komplexe Probleme und er, der Verführer, kenne sie. Er verschweigt oder verdrängt, dass seine Lösung nicht machbar ist, er unterdrückt die ganze Wahrheit zu Gunsten der halben Wahrheit, die bequemer und billiger ist. Er hat mit diesem Vorgehen Erfolg und so kann sich „das Volk“ wiederum mit dem Starken und Erfolgreichen identifizieren. Verführer und Verführte teilen sich den narzisstischen Gewinn.
Sich auf das Volk zu berufen, sollte ja eigentlich nicht negativ sein. Populismus hat dennoch einen negativen Beigeschmack, wohl deshalb, weil der Populist sich ständig auf das Volk beruft, ja, ihm und seiner bereits festgelegten Meinung hinterher rennt. Der Populist will nur dorthin führen, wo er annimmt, das Volk befinde sich bereits. Und das ist nicht Führung, sondern Anpassung. Derjenige, der führt, riskiert im Gegensatz zum Populisten Unpopularität, weil sein Ziel unter Umständen nicht identisch ist mit demjenigen „des Volkes“ und er darum viel Ueberzeugungsarbeit leisten muss.
Doch wer ist „das Volk“?
Zwischenfrage: Wer ist den eigentlich „das Volk“? Gehört der Verführer auch zum Volk? Ganz alle gehören ja nicht dazu. Die Linken und Netten jedenfalls nicht. Die Milliardäre? Die Kunstschaffenden? Und die Ausländer? Gehören die Politiker dazu? Oder gehören die zur classe politique?
Diese Fragen zeigen, dass etwas nicht aufgeht, wenn man sich auf „das Volk“ beruft. Offenbar gibt es da doch einen Graben zwischen Volk und Verführer, zwischen populus und Populist.
Dieses Volk sind offenbar nicht die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, nicht der Souverän in unserer Demokratie, sondern blosse Legitimationsbasis für die Verführer und zugleich die verführte Masse.
Gibt es gute Verführer?
Militärgesetzvorlage 2001. Abstimmungsgetöse. Die Rechte war dagegen, ein kleiner Teil der Linken ebenfalls. Als sozialdemokratischer Bundespräsident wandte ich mich gegen die diffamierende Kampagne der Rechten und setzte die Kampagne mit der Nein - Parole gleich. Ich errichtete der zweifelnden Linken so eine moralische Barriere, für die Vorlage zu stimmen, weil sie sich sonst im Lager der (rechten) Gegner befunden hätte. Der Appell war aber eine verführerische Verkürzung, denn die linken Gegner führten eine eigene Kampagne.
Diese Intervention scheint für die knappe Annahme der Vorlage entscheidend gewesen zu sein, eine Verführung zu einem, wie ich meine, richtigen und guten Resultat also. Das wurde allerdings heftig als unstatthafte Manipulation angeprangert. Wäre es eine Manipulation gewesen, wäre das Vorgehen verwerflich, weil der Manipulator sein Gegenüber als Manövriermasse betrachtet. Der Verführer jedoch sieht in ihm einen Spielpartner. Als Partner habe ich vor einem Jahr die Linke auch betrachtet, welche im Begriff war, sich in das falsche Bett zu legen.
Eine Manipulation ist das also nicht gewesen. War es eine Verführung? Ein Verführer bringt ja sein „Opfer“ definitionsgemäss zu etwas Unerlaubtem, Verwerflichem. Kann denn ein Politiker aus seiner eigenen Sicht ein Verführer sein? Er selber hat ja nie ein unmoralisches Ziel – das sehen nur seine Gegner so. Allenfalls gesteht er, eine List anzuwenden. Die List gehört ja seit je zur Auszeichnung eines guten Generals. Warum sollte sie also nicht auch einen guten Politiker auszeichnen?
Die aktive Verführung erfolgt in aller Regel intuitiv, im Glauben, für die eigene gute Sache alle Register, auch die emotionalen, ziehen zu dürfen, um dem Guten zum Durchbruch zu verhelfen. Vielleicht auch deswegen bezeichnet sich kaum einer als Verführer, sondern versteht sich als Führer mit einem legitimen Anspruch.
Professionelle Verführer: PR-Berater
In wenigen Tagen stimmen wir über das Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) ab. Meinungsforscher haben herausgefunden, dass die meisten Leute empfänglich sind für folgende Argumente: Wir brauchen eine geordnete Marktöffnung, müssen der Wirtschaft helfen, die Konsumenten schützen und umweltfreundlichen Strom fördern. Entsprechend habe ich meine Referate aufgebaut.
Ich ersuche bei dieser Gelegenheit auch Sie um ein Ja, denn wie sonst haben Sie die Garantie, dass künftig bei geöffneten Märkten genügend Strom für die Mikrophone, welche Reden und Musik verstärken, vorhanden ist? Das EMG ist – genau gesehen - hauptsächlich ein Kulturförderungsgesetz! (.... so jedenfalls würde mir wohl eine PR-Agentur raten, vor einem Publikum von Musikliebhabern und Rednern zu argumentieren....)
Verführt werden
Diese Argumentation, Werbung schaffe künstlich Bedürfnisse und verführe jemanden dazu, Dinge zu konsumieren, die er eigentlich gar nicht wolle, übersieht die Bereitschaft der Menschen, sich Suggestionen hinzugeben, den Erfahrungshorizont auszureizen, etwas Neues kennen zu lernen, kurz, sich verführen zu lassen. Es gibt die Bereitschaft, sich einen Weg zum schnellen Geld ebnern zu lassen mit Visionen der besonderen Art. Geld und Reichtum sind verführerische Kräfte, welche dazu verleiten können, die üblichen Normen unserer Existenz zu überschreiten. Aber da gehören auch Essen und Trinken, Schönheit und Anerkennung, Eitelkeit und Geltungsdrang dazu. Ohne sie wäre unser Leben arm und reizlos, auch wenn all dies zur Sucht werden und die Menschen zerfressen kann.
Jede Verführung spricht etwas in uns an, das uns fehlt, eine Sehnsucht, einen Traum, den wir gerne verwirklichen möchten, eine Grenze, die wir überschreiten möchten. Das kann auch eine Utopie sein. Grenzen zu sprengen, die Grenzen zwischen Volk und Aristokratie, die Grenzen der Apartheid, des eisernen Vorhanges, das waren zunächst Visionen, zu denen kritische politische Anführer verführt haben, denn das jeweils herrschende System erlaubte nicht, diese Grenzen in Frage zu stellen.
Verführung ist in diesem Sinne auch die Chance der Veränderung, der Hoffnung, des Aufbruches.
Kopf und Bauch
Ich halte diese Reserviertheit gegenüber emotionaler Ueberzeugungsarbeit nicht für angebracht. Sie geht davon aus, der Mensch funktioniere hauptsächlich nach Kriterien des Verstandes. Diese Ueberbewertung der vermeintlichen Rationalität in der Politik erlebten wir schon bei der Diskussion um das Frauenstimmrecht: Die Frauen, so wurde befürchtet, könnten sich bei Wahlen und Abstimmungen „bloss“ emotional verhalten - im Gegensatz zu den Männern, welche selbstverständlich nach rein sachlichen Kriterien handeln.
Es ist kein Ideal, sich nur gerade von der Ratio leiten zu lassen. Guillotine und Rassengesetze sind auch mit ihr begründet worden. Politische Diskussionen, Vertragsverhandlungen in der Wirtschaft oder zwischenmenschliche Auseinandersetzungen erfolgen vordergründig zwar argumentativ, also rational, sind aber in Tat und Wahrheit immer auch von Glaubensüberzeugungen und Ideologien überlappt.
Der Mensch, und da gehören die Männer auch dazu, besteht aber aus Bauch und aus Kopf, aus Gefühl und Verstand, gleichgültig ob er einkaufe oder politisiere. Die Ueberbewertung der Rationalität in der Politik ist eindimensional, beschränkt, einäugig. Es gibt nicht nur den rationalen Diskurs mit These, Antithese und Synthese. Das Leben ist keine Geometriestunde und die Politik schon gar nicht. Es gibt auch die Rationalität der Emotionen, und es gibt die Vernunft des Herzens, wie Pascal es ausdrückte. Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît point.
Der Politiker muss also rational denken und handeln, darf den Kopf nicht verlieren, soll aber seine Emotionen wahrnehmen, zu ihnen stehen, sie auch berücksichtigen. Aber wenn er eine Sache umsetzt, dann weder allein auf der Basis der Sachlogik noch allein gemäss der Logik des Herzens, sondern im Zusammenspiel aller Kräfte.
Verführung, Narzissmus, Abhängigkeit
Was in der Erotik schön und angenehm ist, kann in Politik und Wirtschaft gefährlich werden. Das beginnt zunächst im Kleinen, bei uns selber, bei den Sorgen um uns und unser Image:
Wie wirke ich? Es ist gerichtlich verboten zu vermuten, des Kanzlers Haare seien gefärbt. Die NZZ schrieb, die meinen seien geföhnt. Soll ich die Wiederholung dieser unwahren Ungeheuerlichkeit verbieten lassen? Wie würde das wohl wirken?
Wie trete ich auf? Wie kleide ich mich? Ich gebe zu: Die Kleider- und Krawattenwahl für einen Auftritt in der Arena nimmt mir mehr Zeit als die inhaltliche Vorbereitung.
Wie gewinne ich die Zuhörer? Welche Worte wähle ich für welches Publikum? Wie weit darf der Versuch gehen, die Sprache und das Denken des Zuhörers zu erahnen, damit ich mit ihm eine gemeinsame Ebene für den Dialog finde? Wo beginnt die Anbiederung, die Unterwerfung, indem ich ihm nach dem Munde rede? Die „captatio benevolentiae“ war schon bei den alten Römern nur erlaubt als Einstieg, als Türöffnung in den Raum der Zuhörer, nicht aber als Unterwerfung.
Die Gefahr des Narzissmus, die Abhängigkeit des Politikers vom Mainstream ist erst der Anfang. Sie führt zwangsläufig zu weiteren Abhängigkeiten und in letzter Konsequenz zur Korruption, zunächst zu einer moralischen, später oft zu einer strafrechtlichen. Denken wir an die Berater, die Rasputine von Verwaltungsräten und Behördenmitgliedern, denken wir an Gefälligkeiten gegenüber Medien, um sie bei Laune zu halten, und denken wir an das Umgekehrte, an Gefälligkeiten von Medien gegenüber Politikern, um zu einer Indiskretion zu gelangen. Das kann korruptive, ja mafiöse Ausmasse annehmen.
Doch die rigide Forderung nach gesellschaftlichen Verhältnissen ohne Elemente der Verführung wäre eine Verkennung des homo politicus, der condition humaine. So findet sich denn der Politiker immer wieder in einem eng geflochtenen Gewebe gegenseitiger Verführung.
Der ethische Diskurs um die Verführung dreht sich um ihr Ziel und den Weg dazu
Zunächst ist Verführung ein Faktum. Wir verführen und wir lassen uns verführen. Ob wir das als negativ oder positiv empfinden, hängt einerseits von unserer Bewertung des Zieles der Verführung ab und zudem vom Weg, welcher eingeschlagen wird und den Mitteln, die benützt werden. Es gibt legitime, zweifelhafte und verwerfliche Wege. Wo ist die Grenze zwischen einer List und einer Manipulation? Wann kippt Charme in Nötigung? Das Wort Verführung meint meist beides, und deswegen oszilliert dieser Begriff, schwingt er hin und her zwischen legitim und illegitim. Verführung spielt an den Grenzen dessen, was den Menschen als erlaubt und von den überlieferten Normen her als richtig und tunlich erscheint. Wer sich mit Verführung befasst, muss sich darum mit Unterscheidungen, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen befassen.
Wohin führen? Zu was verführen? Gut und Böse
Die Geschichte unserer Kultur beginnt mit dem Paradies, dann mit einer Verführung, dann mit dem Sündenfall. Seither suchen wir unaufhörlich, aber erfolglos nach der Erkenntnis zwischen Gut und Böse.
Schon in der Tagespolitik gibt es den Unterschied zwischen Gut und Böse.
Kampagnen erfolgen im Namen des Guten gegen das Böse, die Antiraucherkampagne oder der Kampf gegen Drogenkonsum. Alle Sucht, alle Laster sind von Bösem. (Als Verkehrsminister kann ich das verstehen: Ich denke natürlich auch sehr viel an die bösen Laster auf der Strasse und möchte sie alle auf die gute Schiene bringen...)
Es gibt die gute SVP in Bern, die böse in Zürich, wobei das in der Zürcher SVP umgekehrt gesehen wird. Der Tagesanzeiger warf der SP im Zusammenhang mit ihrer Stellungnahme zum Börsencrash vor, für sie, die SP, seien die Kleinen immer die Guten und die Grossen immer die Bösen, egal, was sie tun. Wer für das EMG einsteht, ist in den Augen der Gegner „kein richtiger, kein reiner Sozi“ mehr (also böse).
Das mögen harmlose Kleinigkeiten sein, die an Don Camillo und Peppone erinnern. Sie können jedoch zu Glaubensgefechten ausarten und von da zu den eigentlichen Glaubenskriegen führt ein direkter Weg:
Die „Achse des Bösen“
Sie gibt die reine Lehre vor, die Reinheit des Guten, das wir anstreben sollen. Wer vom Bösen befallen ist, muss von einem Exorzisten behandelt werden, auch er eine beliebte Filmfigur in Hollywood.
Im Zusammenhang mit der Achse des Bösen ist von neuen Kreuzzügen gesprochen worden, ausgerechnet von einem Europäer, von Berlusconi. Wieder wollen Ritter ohne Furcht und Tadel die Welt erlösen von allem Bösen.
Einmal abgesehen davon, dass diese Kreuzzüge schon einmal verloren wurden: Lehren uns die Erfahrungen mit den Religionskriegen nicht, dass Kreuzzüge grundsätzlich verwerflich sind? All die Religionskriege brachten und bringen bis heute unendlich viel Leid und konnten kaum je von innen heraus, von religiösen Führern, überwunden werden. Meist haben erst politische Herrscher sie beendet, Politiker, die Toleranz aushandelten oder verordneten, etwa 1598 im Edikt von Nantes nach dem Hugenottenkrieg, oder 1648 im Westfälischen Frieden nach 30-jährigem Krieg.
Mauer oder Krieg
Der Gute und der Böse spielen nicht miteinander Schach und anerkennen keine Spielregeln. Sie tauschen auch nicht die tieferen Gründe miteinander aus, warum sie je auf der einen oder anderen Seite, genauer, warum sie beide auf der guten Seite zu sein glauben. Jeder ist auf der guten Seite. Jeder ortet das Böse auf der anderen Seite, den Alkohol und die sexuelle Freizügigkeit, die andere Gesellschaftsordnung, den anderen Glauben. Jeder glaubt an das Gute.
Mit dem Glauben hat denn auch der Unterschied zwischen Gut und Böse sehr viel zu tun.
Es war das bedingungslose „Entweder – Oder“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, welches zum eisernen Vorhang und zur Berliner Mauer führte. Ein Zaun wird derzeit im Nahen Osten errichtet.
Es war die Glaubensfrage zwischen Christen und Moslems, und innerhalb der Christen zwischen orthodoxen Serben und katholischen Kroaten, die zum Krieg auf dem Balkan führte. Es ist dieser heilige Glaube, welcher stets zu ausweglosen Feindschaften, zum Krieg und Gewalt führt, der Glaube, jemand, eine Religion, eine Weltanschauung, eine Politik sei ausschliesslich böse und die andere sei ausschliesslich gut. Es gibt Leute, in deren Köpfe brennt ein heiliger Scheiterhaufen, der ständig auf Opfer wartet. Sie wollen kein Gespräch, sondern nur deklarieren. Wenn der Gesprächspartner ihnen nicht beipflichtet oder ihrem Glauben nicht beitritt, ist er böse, unwert. Solch fromm-verblendeter Fanatismus betrachtet Menschen als Werkzeuge, als Instrumente, als Transportmittel für Selbstmordanschläge. Dort, wo der Mensch als Mittel zum Zweck eingesetzt wird, haben alle Totalitarismen ihre Wurzeln, und zwar in allen Kulturen. Das ist der gemeinsame Nenner von Fundamentalismus, Rassismus und Nationalismus.
Wenn es heute schon beinah antiamerikanisch, also böse ist, Kyoto zu erwähnen, oder wenn es als verdächtig gilt, historische Zusammenhänge aufzuzeigen oder auf die Verteilung des Reichtums in der Welt hinzuweisen, wenn als pazifistisch abqualifiziert wird, wer statt von einem gerechten Krieg gegen den Irak lieber von einem gerechten Frieden im nahen Osten spricht, so nähern wir uns wieder jenem bedingungslosen Entweder - Oder.
Das Böse ist im Guten und das Gute im Bösen
Vom Bösen ist auch im Guten und vom Guten ist im Bösen, denn in uns Menschen gibt es das Gute nicht absolut und auch das Böse existiert nicht in Reinkultur. Es gibt auch, wie Mephisto sich ausdrückte, jene Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Und es gibt auch die Bereitschaft, sich von der anderen Seite, - also meist vom Bösen, denn wer steht nicht zunächst mal auf der guten Seite? – faszinieren, beeinflussen zu lassen. Coca-Cola Werbung stellt in den Augen fundamentalistischer Islamisten eine verführerische Gefahr dar. Nur Stunden nach dem Fall der Zwillingstürme in New York waren erste Bin-Laden Witze im Internet anzutreffen. Und wie ist es mit den heimlichen Phantasien, worin denn die angekündigten neuen Terroranschläge Bin Ladens gegen die USA bestehen könnten? Sympathy for the devil!
„Liebe deine Feinde!“ Heisst das nicht: Versuche, dich hineinzudenken, hineinzufühlen in die Situation der anderen, zu begreifen, warum sie so denken und fühlen?
Wenn wir von einem Dialog der Kulturen sprechen und ihn ernsthaft führen wollen, müssen wir auch anerkennen, dass in anderen Kulturen andere Werte gelten. Zum Beispiel wird der Mensch in asiatischen Kulturen nicht in erster Linie als ein Fordernder, der Rechte hat, begriffen - sondern als einer, der zunächst in der Schuld der Gemeinschaft steht und eine Pflicht zu erbringen hat. Das ist etwas radikal anderes, als wenn wir unseren Individualismus mit der Aufforderung relativieren: „Fragt nicht nur, was euch der Staat bringen muss, sondern, was ihr ihm bringen könnt.“
Wir sollten solche Unterschiede zunächst einmal zu erahnen und dann zu begreifen versuchen, bevor wir uns in Belehrungen ergehen. Diese werden nämlich bald einmal imperativ und dann imperialistisch. Und nicht selten versteigen sie sich am Ende zur Anmassung, zur Anmassung von Dingen und Entscheidungen, die unsere nicht sind. Der Apfel von Adam und Eva steht nicht für Erotik oder Sex, sondern für Anmassung.
Wer das Böse ausrottet, rottet die Freiheit aus
Der Kampf gegen das Böse ist die gefährliche Verführung gut gemeinter Politik. Der verheerendste Glaube ist, es sei gut, das Böse ausrotten zu wollen. Das Böse ausrotten wollen, heisst in letzter Konsequenz, die Freiheit auszurotten.
Diese Erkenntnis, die Warnung davor, Richter über Böse und Gut zu spielen, ist nicht gleich zu setzen mit einem pazifistischen Appell gegen Terrorismusbekämpfung. So wie die damalige NATO-Intervention im Balkan sehr wohl moralisch zu legitimieren war, ist der Kampf gegen Terror auch eine Notwendigkeit für Menschlichkeit in allen Kulturen und Religionen. Ein „Kampf gegen das Böse“ mit seiner absoluten moralischen Motivation und Ueberheblichkeit ist jedoch etwas anderes und hat auch andere Konsequenzen.
Nicht die reine Güte wollen wir anstreben, weil wir es nicht können, sondern zu unserer Unvollkommenheit stehen, müssen wir. Wir sind unserem Wesen nach fehlerhaft und müssen daher fehlerfreundlich sein. Wir können das Gute nicht erreichen; wir müssen uns mit dem Besseren begnügen. Diese Erkenntnis könnte zumindest eine Voraussetzung für Frieden sein.
In das Paradies gelangen wir nicht mehr. Der Apfel ist gepflückt. Aber wenn wir uns dem paradiesischen Frieden wenigstens nähern wollen, sollten wir den Apfel vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen wieder zurück in die Tiefkühltruhe legen.